Kalenderblatt 15 britische Gentlemen rauben einen Postzug aus
Den "Großen Postzugraub", so nennt man den Überfall auf den Postzug der britischen Royal Mail bei Mentmore im Jahr 1963. Vier Tage lang suchte die Polizei vergeblich nach einer heißen Spur. Von den gestohlenen 2.631.684 Pfund konnten nur rund 330.000 wiedergefunden werden. Der Raub wurde legendär. Autor: Simon Demmelhuber
08. August
Donnerstag, 08. August 2024
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Redaktion: Frank Halbach
Jeder Handgriff sitzt. Jedes Detail, jeder Schritt ist tausendmal gegen die Stoppuhr geprobt, verbessert, geschliffen. In der Nacht vom 7. auf den 8. August 1963 hat der Zufall keine Chance. Alles läuft exakt nach Plan: Um 18 Uhr 50 verlässt ein Zug der Royal Mail den Bahnhof Glasgow. Im zweiten von 10 Waggons lagern 134 Postsäcke mit abgegriffenen Banknoten. Sie sollen demnächst in London gegen druckfrische Scheine ausgetauscht werden. In den acht folgenden Wägen sortieren Beamte Pakete und Briefe.
Der große Coup
Um 3 Uhr 20 bremst ein rotes Signal den Zug. Der Maschinist steigt aus, er will die Strecke inspizieren. Im nächsten Moment stürmen Maskierte die Lok. Der Lokführer wehrt sich, ein Knüppel legt ihn flach. Ein zweiter Trupp kuppelt inzwischen die Sortierwaggons ab. Hinter der Lok hängen nun nur noch ein leerer Gepäckabteil und der Wagen mit den Geldsäcken. Im Führerstand zwingen die Angreifer derweil den blutenden Lokführer zur Weiterfahrt. Einen knappen Kilometer später stoppt der Rumpfzug erneut unter einer Brücke. Im Sichtschutz des Viadukts brechen die Räuber den Geldwagen auf. Sie verladen die Postsäcke auf drei wartende Fahrzeuge, schärfen den verschüchterten Begleitbeamten ein, eine halbe Stunde lang stillzuhalten und tauchen mit Zweieinhalbmillionen Pfund in die Dunkelheit ab.
Um 4 Uhr 30 entdecken Polizisten die aufgebrochenen Waggons, eine Stunde danach beginnt die größte Fahndung der britischen Kriminalgeschichte. Nach fünf Tagen führen Hinweise ein Spezialkommando zum Versteck der Posträuber. Die Gauner sind ausgeflogen. Aber sie haben massenhaft Spuren und vor allem Fingerabdrücke hinterlassen, die samt und sonders zu Tätern aus dem Kleinganovenmilieu passen.
Bereits Mitte August sitzen zwölf der 15 Posträuber in Untersuchungshaft, im Januar 1964 beginnt der Prozess, im April stehen die Urteile fest. Die Strafen fallen deftig aus: 30 Jahre für die Hauptangeklagten, zwischen 10 und 25 Jahren für minder wichtige Bandenmitglieder.
"Die Gentleman bitten zur Kasse"
Der Richter geißelt den Überfall als abscheuliches und verwerfliches Verbrechen, die Medien sehen das anders. Sie preisen die handwerklichen Feinheiten des Jahrhundertverbrechens, schlemmen sich durch jedes Detail des Supercoups und polieren den Postraub zum Bravourstück gewaltloser Edelbanditen auf.
Dass die Gentlemen und ihre Helfer samt und sonders knasterprobe Berufskriminelle sind, geht glatt unter. Verbrechen als gut geölter Mannschaftssport kommt gerade irgendwie verdammt gut an, auch in Deutschland. Sämtlich Zeitungen, Zeitschriften und Sender berichten in Dauerschleife, der TV-Dreiteiler "Die Gentleman bitten zur Kasse" fegt die Straßen leer.
Den Verherrlichungsvogel schießt allerdings Hedwig Kellner ab: Die Unternehmensberaterin überlegt, was clevere Gangster mit Managern gemeinsam haben und packt die Antwort in ein Buch mit dem Titel Die Posträuber-Methode - Strategien für Selbst- und Projektmanagement. Folgt man einer Leserkritik, ist der Ratgeber "ein Muss für jeden Geschäftsmann, der im Leben steht und Erfolg haben will". Na, dann wäre zum Glück jetzt auch das geklärt!