Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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21. Mai 1822 Angeschossener Storch belegt Vogelzug

Am 21. Mai 1822 wird an der Ostsee ein Weißstorch von einem Scheunendach geschossen. Er wird die Wissenschaft auf eine neue Spur bringen. Im Hals des Tieres steckt nämlich ein Pfeil - 80 Zentimeter lang und aus Afrika. Damit belegt das Tier, es wird gezogen in der Vogelwelt. Autorin: Prisca Straub

Stand: 21.05.2024 | Archiv

21.05.1822: Angeschossener Storch belegt Vogelzug

21 Mai

Dienstag, 21. Mai 2024

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Irina Wanka

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Die Sensation sitzt auf dem Scheunendach: Auf Gut Bothmer bei Klütz an der Ostsee hat ein Weißstorch Platz genommen. Über Nacht ist er dort aufgetaucht und versetzt seine übrigen Artgenossen in Aufregung: Auf dem Strohdach wird gezetert! Und auch Christian Ludwig Reichsgraf von Bothmer traut seinen Augen nicht: Zwischen den schwarz-weißen Federn des Neuankömmlings steckt ein Pfeil - ein ausgesprochen langer Pfeil! Senkrecht ist er von unten in die linke Halsseite des Tieres eingedrungen und taucht erst 20 Zentimeter weiter, unterhalb des Kopfes wieder auf; die Spitze ragt weit über den Vogelkörper hinaus ... Den Storch scheint das nicht weiter zu behindern, doch die übrigen Tiere versuchen aufgeregt, den verletzten Kollegen von dem Geschoss zu befreien. Erfolglos.

Bleistiftdicker Pfeil im Hals

Ein paar Tage lang betrachtet der Reichsgraf das flattrige Treiben. Dann, am 21. Mai 1822, schießt er den "Pfeilstorch" mit der Flinte vom Dach. Vielleicht kann ja der Großherzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin etwas anfangen mit dieser kuriosen Trophäe? - Der übergibt den Kadaver seiner Präparationswerkstatt. Mitsamt Pfeil im Hals.

Beim Ausstopfen des Vogelbalgs kommt Außergewöhnliches ans Licht: Das bleistiftdicke Geschoss ist tödlich knapp an Speise- und Luftröhre vorbeigeschrammt - und steckt schon so lange im Storchenhals, dass es fest mit dem umliegenden Gewebe verwachsen ist. Dort, wo der Pfeil bei jedem Flügelschlag an die rechte Armschwinge gestoßen ist, hat das Tier eine sichtbare Verhornung. Kaum zu glauben, dass ein Vogel mit dieser Behinderung überhaupt flugfähig ist. Doch das Erstaunlichste: Der Pfeil mit der breiten Metallspitze kommt nicht aus Mecklenburg. Er kommt nicht mal aus Europa. Denn er besteht aus massivem Tropenholz.

Unter den Weißstörchen auf dem Scheunendach auf Gut Bothmer ist inzwischen Ruhe eingekehrt. Wirbel entsteht stattdessen unter den Gelehrten der Universität Rostock: Welche "Völkerschaft" bedient sich solcher Jagdgeschosse? Bogenschützen etwa aus Afrika? Und: Wie sollte das möglich sein? Von einem so unvorstellbar weit entfernten Winterquartier der Störche weiß man bisher nichts.

Noch mehr Pfeilstörche aus Afrika

In den folgenden Jahrzehnten wird sich das ändern. Es werden nämlich noch viele weitere Pfeilstörche gesichtet: Schwer verwundet sind sie ihren Jägern entkommen und treffen mit letzter Kraft in den europäischen Brutgebieten ein. Die Pfeile in ihren Schultern, Flügeln und Hälsen sind zwar unterschiedlich geformt - aus Holz oder auch aus Rohr - sie stammen aber alle aus Zentralafrika, wo die Langstreckenzieher, wie man heute weiß, tatsächlich überwintern. Als geschickte Segelflieger überwinden die Tiere dabei Zehntausende Kilometer und nutzen den thermischen Aufwind - entweder auf der Westroute über Gibraltar oder östlich über den Bosporus.

Der unglückliche Pfeilstorch von der Ostsee brachte den ersten entscheidenden Hinweis auf die gewaltigen Vogelzüge nach Afrika und zurück. Heute steht er in der Zoologischen Sammlung der Universität Rostock. Als lebensechtes Standpräparat. Mit Originalpfeil.


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