26. Mai 1973 Schleimpilz-Invasion bei Marie Harris, Texas
In einem Vorort von Dallas kommt es am 26. Mai 1973 zu einem bizarren Zwischenfall: Ein grellgelbes Wesen wuchert über Vorgärten, Parks und wächst sogar Laternenpfähle hoch. Steht das Ende der Welt bevor? Autorin: Prisca Straub.
26. Mai
Freitag, 26. Mai 2023
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Irina Wanka
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Marie Harris trifft fast der Schlag, als sie am 26. Mai 1973 vor die Haustür tritt.
Der unappetitliche Anblick ihres Gartens - seit dem frühen Morgen ist alles noch viel schlimmer geworden. Was vor wenigen Stunden nur ein paar unansehnliche Fladen waren, höchstens Cookie-groß - ist jetzt angewachsen! - Zu schleimig-gelben Wucherungen in Omelette-Größe. Glibberig - und ekelerregend: Was um alles in der Welt geht an diesem regnerischen Tag hier in den Blumenbeeten vor sich? In einem unscheinbaren Vorort von Denver, Texas? - Mit dem Rechen rückt Marie Harris dem schmierigen Gelee zu Leibe. Das schmatzende Geräusch beim Zerteilen der grellgelben Masse verursacht ihr Übelkeit. Was, wenn dieser grausige - äh, "Blob" - auch noch giftig wäre?
Der Blob im Garten
Am Nachmittag kommt die Feuerwehr. Mit scharfem Wasserdruck wird die gallertige Kreatur vom Schuppendach geholt und aus den Obstbäumen gespritzt. Und nicht nur Marie Harris ist kurz davor, den Verstand zu verlieren: Der Blob hat inzwischen auch die Nachbargärten verschlungen, die Parkanlage zugeschleimt und wuchert gerade die Straßenlaternen hoch. - Steht hier vielleicht eine feindliche Invasion aus dem All bevor?
Physárum polycéphalum - oder auch "vielköpfiger Schleim". Streng wissenschaftlich: ein Lebewesen aus der Gruppe der Schleimpilze. Weder Tier, noch Pflanze und trotz seines Namens auch kein Pilz. Es kann passieren, dass der wabernde Organismus scheinbar reglos auf einem verrottenden Baumstumpf hockt, um im nächsten Moment wie auf unsichtbaren Füßchen in mehrere Richtungen gleichzeitig zu verschwinden.
Ohne Muskeln und ohne Gehirn, aber ausgestattet mit einer wahren Fülle extravaganter Eigenschaften: Mit seinen fingerartigen Ausstülpungen ist der "Vielköpfige" immerzu auf der Suche nach Nahrung, ungeheuer gefräßig und ebenso clever. In Experimenten hat sich gezeigt, dass Physárum durchaus eine Art Gedächtnis besitzt, dass er lernen kann und sogar in der Lage ist, Probleme zu lösen: In einem Labor-Irrgarten findet der Schleimpilz zielstrebig den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten. Angetrieben von seinem gewaltigen Appetit auf Totholz, Rinde und verrottendes Pflanzenmaterial. - Am liebsten mag er aber: - Haferflocken.
Hirnlos, aber clever
Bei feucht-kühlen Wetterbedingungen und üppigem Nahrungsangebot kann der Schleimer im Handumdrehen zu erstaunlichen Ausmaßen heranwachsen und meterlange Ausläufer bilden. Selbst bei Dürre überlebt er - in eingetrockneter Form. Physárum scheint nahezu unsterblich zu sein.
Von alledem kann Marie Harris noch nichts wissen. Sie steht in ihrem Garten, von Grauen geschüttelt. Inzwischen ist auch die Polizei angerückt. Zunehmend hilflos feuert sie ihre Munition auf den fresssüchtigen Blob. Die gallertige Masse schluckt sie ungerührt. Ist das das Ende? Sieht so der Weltuntergang aus? - Doch dann - ein Wetterumschwung: Kurz darauf ist das grellgelbe Inferno verschwunden. Spurlos. Marie Harris ist nochmal davongekommen.