27. Juni 1954 Weltweit erstes Kernspaltungskraftwerk produziert Strom
Obninsk, etwa 100 Kilometer südwestlich von Moskau: hier geht am 27. Juni 1954 das weltweit erste Kernkraftwerk in Betrieb. Und so beginnt das Problem mit dem Atommüll. Autor: Thomas Grasberger
27. Juni
Donnerstag, 27. Juni 2019
Autor(in): Thomas Grasberger
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Neulich versammelte sich im oberbayerischen Sindelsdorf die örtliche Jugend vor der Kirche St. Georg, um beim alljährlichen Maibaumaufstellen zuzuschauen. Dieses Spektakel verläuft bekanntlich im Hauruck-Verfahren und dauert mehrere Stunden, weil die baumstarken Burschen, die den noch baumstärkeren Maibaum hochhieven sollen, gelegentlich Kraft tanken müssen – in Form von Freibier. Die Sache zieht sich also. Weshalb die Aufmerksamkeit der zuschauenden Dorfjugend etwas abschweifte. Und plötzlich debattierten die trachttragenden Teenager ein sehr ernstes Thema: ʺWohin mit dem ganzen Atommüll der Welt?ʺ. Vergraben sei ganz schlecht, meinte ein Mädchen mit langen, braunen Zöpfen und weißem Blumenschmuck im Haar. Das Zeug strahle doch Millionen von Jahren. Sowas sei den künftigen Sindelsdorfern nicht zuzumuten! Und auch dem Rest der Welt nicht; nicht einmal den Penzbergern!
Wohin damit?
Solch überaus wichtige Fragen wie die nach dem Verbleib des gefährlich strahlenden Atommülls hatte man offenbar vor dem 27. Juni 1954 nicht recht bedacht. An jenem Tag begann die Menschheit erstmals in ihrer Geschichte kommerziell Atomstrom zu produzieren – im russischen Kernkraftwerk Obninsk. Seither ist auf der ganzen Welt viel Atommüll angefallen. Wieviel genau, weiß niemand. Bis 2010 waren es geschätzte 300.000 Tonnen hochradioaktiven Abfalls. Und Jahr für Jahr kommen 12.000 Tonnen hinzu. Aber eine befriedigende Antwort auf die Frage ʺWohin damit?ʺ ist man bis heute schuldig geblieben.
Atom-, Muskel- und Hirnschmalz
ʺVielleicht sollte man ja den ganzen Atommüll in eine Rakete stopfen und zum Mars hinaufschießenʺ, meinte das Mädchen mit den Zöpfen. Wofür es in der Dorfjugend heftigen Widerspruch erntete. Die Sache wurde dann aber nicht weiter diskutiert, denn just in dem Augenblick erklang das ʺHooo Ruck!ʺ der Sindelsdorfer Burschen, die wieder kräftig anpackten, um ihren Maibaum ein Stückchen weiter in die Höhe zu bringen. Alles per Hand, versteht sich!
Denn im traditionsbewussten Sindelsdorf arbeitet man nicht mit Atomstrom, sondern mit Muskelkraft und langen hölzernen Stangenpaaren. Vor allem aber mit Hirnschmalz. Deswegen hat man vorab eine kleine Sicherheitsmaßnahme eingebaut – ein Drahtseil, das an einem Traktor befestigt ist und den Maibaum hält, damit er garantiert nicht rücklings umfallen kann. Wär schön gewesen, wenn sich auch die Atomindustrie vorab ein paar Gedanken darüber gemacht hätte, wo sie ihren ganzen verstrahlten Abfall entsorgen will. Hat sie aber leider nicht getan.
Und auch die oberbayerische Dorfjugend fand an jenem sonnigen Frühlingstag keine tragfähige Lösung für unser Atommüll-Problem. Denn bald schon gab´s Kaffee und Kuchen, und nachmittags um drei hatten die Burschen endlich auch ihren frisch geschlagenen Maibaum in der Höhe. Alles klatschte, die Musik spielte, und der Baum vom Vorjahr wurde erfolgreich versteigert. Am Ende waren alle zufrieden, denn das Spektakel war wieder mal gut über die Bühne gegangen. Der neue Maibaum stand mitten im Dorf, felsenfest verankert und ganz sicher! Tja, so geht´s auch. Mit viel Muskelkraft. Und noch mehr Hirnschmalz.