Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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Kalenderblatt Wyndham Halswelle gewinnt Geisterrennen, Olympiasieger

Dabeisein ist alles, lautet das olympische Motto. Im Fall von Wyndham Halswelle in London 1908 allerdings meint das, er ist allein dabei. Seine Gegner sind disqualifiziert oder weigern sich, das Rennen zu wiederholen. Also wird Halswelle Olympiasieger – als einziger Teilnehmender. Autor: Thomas Grasberger

Stand: 25.07.2024 | Archiv

25.07.2024: Wyndham Halswelle gewinnt Geisterrennen, Olympiasieger

25 Juli

Donnerstag, 25. Juli 2024

Autor(in): Thomas Grasberger

Sprecher(in): Caroline Ebner

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Es gehört zu den weitverbreiteten Irrtümern im Sport – und vermutlich auch sonst im Leben –, dass man an seinen Gegnern scheitert. Denn in den meisten Fällen ist es doch wohl eher so, dass man sich selbst im Weg steht oder über seine eigenen Beine stolpert. Beides erweist sich als höchst hinderlich, nicht nur bei Laufwettbewerben. Und meist bringt es dann auch wenig, wenn man schreit: "Geh doch weg, Du Depp!" Denn wie sollte das funktionieren? Vor sich selbst ausweichen, noch dazu mitten im Laufschritt? Nein, so was kann nur schief gehen. Man scheitert eben an sich selbst.

Ich oder das Gegenüber?

Aber natürlich sind manchmal auch andere Leute mit im Spiel, die einen mitunter bis zur Weißglut reizen. Man denke nur an den deutschen Tennisspieler Otto Froitzheim im Finale von Wimbledon. Die älteren Zuhörer werden sich vielleicht… auch nicht mehr erinnern. Denn die Partie fand im Jahr 1914 statt. Otto Froitzheim hatte einen Matchball und stand kurz vor dem Sieg. Als sein Gegner, der Australier Norman Brookes, den nächsten Ball ins "Aus" schlug, eilte Froitzheim siegesgewiss ans Netz, um Brookes die Hand zu geben. Plötzlich aber, nach langem Zögern, korrigierte der Schiedsrichter: "Der Ball war nicht aus! Das Spiel geht weiter!" Rein äußerlich trug Froitzheim die Entscheidung mit Fassung, aber in ihm, da nagte und brodelte es. Und so verlor er erst den Punkt, dann die Nerven und am Ende das Match! Gegen Brookes, aber vor allem gegen sich selbst!

Durchatmen und weitermachen

Deutlich cooler als der deutsche Tennisspieler hatte sechs Jahre zuvor der schottische Mittelstreckenläufer Wyndham Halswelle bei den Olympischen Spielen 1908 in London reagiert.
Halswelle musste im 400-Meter-Finale gegen drei US-Amerikaner antreten. Und die nahmen ihn schwer in die Zange – getrennte Bahnen gab´s damals nämlich noch nicht. Auf der Zielgeraden lag der Amerikaner John Carpenter vorn und fuhr kräftig die Ellbogen aus, damit der schnelle Schotte Halswelle ihn nicht noch überholte. Carpenter ging als Sieger über die Linie, wurde kurz danach aber disqualifiziert – wegen des unsportlichen Ellbogeneinsatzes.

Das Rennen musste wiederholt werden. Ohne Carpenter! Aus Protest gegen diese Entscheidung wollten nun auch die beiden anderen US-Amerikaner nicht mehr mitlaufen. Und so wurde das erneute 400-Meter-Finale von London am 25. Juli 1908 zu einem höchst kuriosen Geisterrennen.
Wyndham Halswelle lief und lief und lief, mutterseelenallein und ganz ohne Stress sein einsames Rennen. Er stolperte nicht über seine eigenen Beine und er stand sich auch nicht selbst im Weg, sondern gewann ganz souverän olympisches Gold für Großbritannien.

An jenem Tag, so berichten es Sporthistoriker, soll Pierre de Coubertin, der Gründervater der Olympischen Bewegung der Neuzeit, sinngemäß das berühmte Motto geprägt haben: "Dabei sein ist alles!" Die Losung war wohl vor allem an die beiden US-amerikanischen Läufer gerichtet, die das Finale boykottiert hatten. Und irgendwie stimmt sie ja immer noch: Wer nicht mitläuft, der hat schon verloren. Gegen sich selbst!


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