Helado Negro - PHASOR

Der Indie-Electronica-Künstler Helado Negro - Amerikaner mit ecuadorianischen Eltern - singt auf seinem 8. Album wieder mal auf Spanisch und Englisch. Der Opener „LFO“ klingt wie verschwurbelter Psych-Rock, der Titel steht für “Lupe finds Oliveros”. Helado Negro erweist hier zwei spannenden Frauen die Ehre: Pauline Oliveros, Pionierin der Ambient Musik, die den Begriff Deep Listening geprägt hat, also das Zuhören und Wahrnehmen anstelle des nur Hörens. Die andere Frau ist Lupe Lopez. Eine lateinamerikanische Einwanderin, die in den 1950ern und 60ern für Fender Guitars in Los Angeles Gitarrenverstärker verkabelt hat. Ihre Verstärker sind bis heute offenbar beliebte Sammlerstücke. Helado Negro ist durch Zufall auf sie gestoßen und findet, die beiden Frauen haben gemeinsam, dass sie die kleinen Dinge und Details im Leben und in der Kunst wertschätzen. „LFO“ ist einer der mehr nach vorne gehenden Songs auf dem Album, das sonst einen eher meditativen Vibe hat. Der Song “Es Una Fantasia” entwickelt sich zu einer Art Latin-TripHop. An anderer Stelle lullen einen sanft pluckernde Beats ein, die vielen spielerischen Sound-Elemente wecken dann wieder auf. Die Songs klingen wie ein buntes akustisches Kaleidoskop. Nicht jeder Song bleibt bei mir hängen. Aber der englisch gesungene “Best for You and Me” tut es. Ein Song über die Scheidung seiner Eltern, eine warme Melange aus Klavier und Elektronik und für mich das Highlight des Albums. (7,8 Punkte)

Madi Diaz – Weird Faith

Von Helado Negro, dem Amerikaner mit den ecuadorianischen Eltern, zu einer Amerikanerin mit peruanischer Mutter: Madi Diaz. Seit Ende der 2000er Jahre hat sie mehrere Alben und EPs rausgebracht. Aber erst 2021, mit ihrem 5. Album, kam der Indie-Durchbruch und Touren mit Waxahatchee und Angel Olsen. Und - noch größer - mit Harry Styles. Der hat sie in seine Live-Band und auch in sein Vorprogramm geholt. Was mich für sie freut, aber auch ein bisschen wundert. Ich frage mich, wie ihre Songs in Riesenstadien voller schreiender junger Frauen funktionieren - ich finde, man muss bei diesem Country-Folk-Pop ganz genau hinhören, um die Songs wirklich zu checken. Das ist auch wieder so auf dem neuen Album “Weird Faith”. Könnte man übersetzen mit “seltsames Vertrauen” - etwas, das man braucht, um sich in das Wagnis des Sich-Verliebens zu werfen, worum’s auf dem Album geht. Am Ende steht man mit der Verliebtheit ja leider oft genug alleine und gedemütigt da. Die Songwriterin aus Nashville lotet auf dem Album ihre Gefühle in der Liebe aus, auch ihre masochistischen und obsessiven. Und zwar bis ins kleinste Detail, tagebuchartig. Das kann im ersten Moment manchmal ein bisschen eindimensional klingen. Die emotionale Wucht in dieser Direktheit kommt bei mir erst beim mehrmaligen Hören. Außer beim Song “KFM” - “Kill, fuck, marry you forever” - der Song sitzt! Musikalisch ist das schöner, aber recht brav arrangierter Folk-Pop, oft auch nur Madi Diaz mit Akustikgitarre und ein bisschen Hall. (7,7 Punkte)

Shygirl – Club Shy EP

Eine EP, die vor allem in die Beine geht, kommt von Blaine Muse aka Shygirl aus London. Auf “Club Shy” hat Shygirl wieder mit verschiedensten Produzent:innen zusammengearbeitet – auf „Tell Me“ z.B. mit dem Berliner Boys Noize. Der Sound ist diesmal für ihre Verhältnisse ziemlich euphorisch und hell - inmitten des Techno-Geballers, das auch mal nostalgisch Richtung Eurodance nickt. Vier von sechs Songs konnte ich vorab schon hören. Zumindest einer davon, “f@ke”, hat wieder was von diesem Düster-Beklemmenden, das ich an Shygirls frühen Songs immer so mochte, wo sie auch noch mit Industrial-Sounds gespielt hat. Auf jeden Fall faszinierend, wie sie immer wieder verschiedene Seiten von sich zeigt. Die Sängerin, Rapperin und Produzentin aus der Londoner Club- und Fashion-Szene ist auch sehr gefragt als Feature-Gast u.a. auf Songs von Mura Masa und grade ganz neu: von Kelela. (keine Wertung)

Kelela – Rave:n

Auf dem neuen Album von Kelela, der amerikanischen Elektro-RnB Künstlerin, ist Shygirl auch vertreten. Neben vielen anderen Gästen wie der US-Koreanerin Yaeji oder dem Produzenten LSDXOXO. Kelela hat ihr Album „Raven“ aus dem letzten Jahr nämlich remixen lassen und bringt es jetzt als „Rave:n“ nochmal raus. Während „Raven“ - das Debüt der Amerikanerin mit den äthiopischen Wurzeln - hochgelobt wurde von der Kritik, konnte es mich damals nur so halb begeistern. Der sexy Räkel-Gesang über schwebenden Synthie-Flächen war mir manchmal zu diffus, zu wenig griffig. Mein erster Impuls bei 20 (!) Remixen war also erstmal: Oh je… Aber: wow! Ich bin überrascht, wie spannend diese neuen Versionen großteils klingen. Manchmal wird genau das über Kelelas ätherischen Gesang gelegt, was ich offenbar immer vermisst habe: ein brutaler Beat! Oder synkopierte Rhythmen, auf denen ich gerne mitstolpere. Oder weitere Stimmen, die den Songs einfach mehr Futter geben, damit sie nicht so im Ungefähren bleiben. Ich warte in Zukunft bei Kelela also einfach immer auf das Remix-Album. (7,9 Punkte)

Declan McKenna – What Happened to the Beach

Er galt 2017 als das neue Wunderkind aus dem UK: Declan McKenna. Mit 16 von der Schule gegangen, mit 17 Auftritt auf dem Glastonbury Festival, im selben Jahre wurde seine Anti-Fifa-Korruptions-Hymne “Brazil” ein kleiner Indie-Hit. Mittlerweile ist das Wunderkind 25 Jahre alt und bringt sein 3. Album raus - “What Happened to the Beach”. Der Song “Sympathy” kommt mit Trompeten, Schellen, Klatschen und beschwingten Gitarren daher und erinnert mich vom Energie- und Verspieltheits-Level an das britische Go Team! Das ist catchy, verspulter Indie-Pop. McKenna selbst nennt St. Vincent als Vorbild, wenn’s drum geht, das Gitarrenspiel auf neue Ebenen zu bringen. Das Album “What Happened to the Beach” hat zwar was leicht Chaotisches mit den kleinen Skits zwischen den Songs, auf denen Declan McKenna rumblödelt oder Schnipsel aus Radiosendern verfremdet. Aber das gehört zum Konzept und man hört, dass sich hier einer mal gegönnt hat, Spaß zu haben, nachdem er schon in sehr jungen Jahren unter dem Druck der Musikindustrie stand. Und das steckt über große Teile des Albums an. (7,7 Punkte)

Die Sterne - Grandezza

Die Sterne muss man nicht groß vorstellen: eine der Hamburger Schule Bands, die immer noch aktiv ist - auch wenn von der Originalbesetzung nur noch ihr Kopf Frank Spilker übrig ist. Auf ihrem Best-of-Album „Grandezza“ gibt’s chronologisch Hits aus 30 Jahren Bandgeschichte. Von “Was hat dich bloß so ruiniert” über “Von allen Gedanken schätze ich doch am meisten die interessanten” hört man wieder Zeilen, die sich ins popkulturelle deutsche Indie-Gedächtnis eingebrannt haben seit Anfang der 90er. In der Mitte hört man ihren Disco-Ausflug vom Album 24/7 und den Stampfer “Nach fest kommt lose”. Und am Ende landen wir bei zwei Songs vom wieder großartigen Album “Hallo Euphoria” aus dem Jahr 2022. Und mit “In diesem Sinn (auf Mandarin)” ist auch noch ein bisher nicht veröffentlichter Song auf “Grandezza”, den man in seiner Unsinnhaftigkeit - schließlich liebt man die Band ja für ihre tollen deutschen Texte - schon wieder ganz witzig finden kann. Es gilt weiter: Wenn Wand-Tattoos nicht so verabscheuungswürdig wären - man sollte seine ganze Wohnung mit Songzeilen von den Sternen tapezieren! Am 20. März spielen sie übrigens in Nürnberg im Club Stereo. (8,5 Punkte)

Olli Schulz – Vom Rand der Zeit

Wir bleiben in Hamburg, verlassen aber die Schule. Zu der hat Olli Schulz nie gehört. Der mittlerweile 50-Jährige war früher mit seiner Band Olli Schulz und der Hund Marie unterwegs. Jetzt kommt jetzt sein fünftes Solo-Album raus: “Vom Rand der Zeit“. Olli Schulz findet darauf, es wird Zeit, dass unser Herz wieder blüht („Einfach so“). Der melancholische Loser - seine Lebensrolle - ist offenbar ein bisschen milder und weniger pessimistisch geworden. Was mutmaßlich an der Zeit liegt, die - Überraschung - verdammt schnell vergeht und die, wie er an anderer Stelle singt, alles auflöst, außer das, was wirklich zählt. Zum Beispiel die Geburt seines Sohnes, siehe der Song “Silvester”. Manche Songs klingen musikalisch wirklich so rührend, nett und fluffig, als könnten sie gut ins Kinderzimmer passen. Oder in “Inas Nacht” - tatsächlich gibt es auch ein Duett mit Ina Müller. Das geht alles sofort ins Ohr, könnte aber auch ganz gut als Soundtrack in einem Til Schweiger Film laufen. Aber das stört Olli Schulz-Fans bestimmt nicht - die lieben ihn schließlich vor allem auch als Entertainer - z.B. im Podcast mit Jan Böhmermann. Die Olli Schulz-Tour ist übrigens so gut wie ausverkauft - auch die Bayern-Konzerte am 15. und 16. Februar in Nürnberg und München. (6,9 Punkte)

Grossstadtgeflüster – Über-Icke

Die Berliner Band Grossstadtgeflüster ist bekannt und beliebt für ihren Pöbel-Bratz-Rave-Sounds. Und ich möchte ausdrücklich vorweg sagen: da geht’s mitunter sehr unterhaltsam und geistreich zu, wo sich diese Band seit vielen Jahren rumtreibt - zum Beispiel in der “Fickt-euch-Allee”, so heißt ihr 30-Millionen-Streams-auf-Spotify-Hit von 2015. Ihr neues Album heißt - passend zur Berliner Schnauze ihrer Sängerin - “Das Über-Icke”. Da wäre zum Beispiel der Song “Wenn ich deine Eltern wär”. Eine freundliche, witzige Ermunterung zum Scheitern, soundmäßig mit der Keule übergezogen. Wenn ich Grossstadtgeflüsters Eltern wär, würde ich ja erstmal sagen: Puh, man kann’s mit Fäkalsprache auch übertreiben. Ich sag selbst gern und oft "Scheiße" und das F-Wort. Aber das ist auf Albumlänge sogar mir einen Ticken zu viel. Wie natürlich alles bei dieser Band zu viel sein SOLL, weil es zum Konzept gehört. Aber wenn sie sich - eigentlich sehr schön - über Kalenderblattsprüche und Plattitüden lustig machen, hilft’s dann leider nicht, die am Ende so oft zu benutzen, dass die Ironie unter der Nervigkeit begraben wird. Und wenn selbst die rührendste Song-gewordene Liebeserklärung auf dem Album nicht ohne Kotze und Vollrausch auskommt, ist das mir persönlich zu pubertär für eine Band in ihren Vierzigern. Aber da sollen sich ja auch andere abgeholt fühlen. Bei Hits wie “Ich kündige” und “Leben am Limit” bin ich dank ihrer Deichkindhaftigkeit wieder versöhnt. Aber dass “Ketchup” dann im gleichnamigen Song als Rebellions-Symbol gegen die feine Klassik hörende Oberschicht herhalten muss, find ich leider ganz schön einfallslos. Sag ich hier als Ketchup-Fan und Klassik-Verteidigerin. (6,7 Punkte)

Dizzee Rascal – Don’t Take it Personal

Dizzee Rascal ist Pionier des Genres Grime und Träger des Britischen Ritterordens. Jetzt erscheint sein 8. Album “Don’t Take it Personal”. Darauf sind Songs wie "Switch and Explode”, das für mich das neue “Bonkers” ist - so hieß Dizzee Rascals großer Hit von 2009. Mit den Nintendo Sounds und dem ADHS-Rap hat der neue Song eine ähnlich mitreißende Wirkung auf mich und macht mich sofort wieder zum Fan. Der bald 40-Jährige hat nichts an seiner Schnelligkeit verloren, das High-Energy-Level bleibt konstant recht hoch auf dem neuen Album, ohne nervig zu werden. Hier werden die alten UK Garage und 2-Step Einflüsse gefeiert, trotzdem klingt Dizzee Rascal so fresh wie eh und je. Der Grime-MC zeigt, dass er auch gut 20 Jahre nach seinem Debüt noch immer auf der Höhe der Zeit ist. Grime, die dreckige britische Variante des Rap, ist um die Jahrtausendwende in den Sozialwohnblocks in London entstanden und dank Figuren wie ihm aus dem Underground in den Mainstream gewandert. (8 Punkte)

Ducks Ltd. – Harm’s Way

Damit in die Indie -Ecke und zu einer Band, der ich als bekennender Enten-Fan nur zu ihrem Namen gratulieren kann: Ducks Ltd. Wenn ich ihren wunderbaren Jangle-Pop höre, sehe ich glückliche Enten vor mir, die in der Sonne auf dem See ihre Runden drehen und freudig ihre gefiederten Bürzel wackeln lassen. “Harm’s Way” heißt das zweite Album des Duos, bestehend aus dem australischen Gitarristen Evan Lewis und dem britisch-amerikanischen Sänger und Bassisten Tom McGreevy, die aber beide in Toronto leben. Auf ihrem zweiten Album haben sie lauter Songs versammelt, die man schon beim ersten Hören ins Herz geschlossen hat. Vor allem die tollen Gitarren erinnern mich an die australischen Rolling Blackouts Coastal Fever, die Band selbst ist Fan der Go Betweens. Super Album! (8,2 Punkte)

Chelsea Wolfe - She Reaches Out To She Reaches Out To She

Die Musik von Chelsea Wolfe klingt so tiefschwarz und nach Nacht, dass es sich anfühlt, als würde sie einen nahezu verschlucken. Die amerikanische Goth-Doom-Folk Musikerin hat sich für ihr neues Album Dave Sitek von TV on the Radio als Produzenten geholt. Der hat ihr einen beeindruckend fetten Sound gebaut, auf dem sie mal verletzlich, ASMR-mäßig, mal betörend und kraftvoll vom Suchen und Finden von sich selbst singt. “She Reaches Out To She Reaches Out To She" lautet der etwas kryptische Albumtitel. (7,9 Punkte)