Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Viagra Boys, Four Tet und Steve Earle and the Dukes
Die ersten Neuheiten der Woche im kompakten Überblick. Platten gibt's von u. a. Viagra Boys, Steve Earle & The Dukes, Caspar Clausen (Efterklang), Hilang Child und Traka, Four Tet, Richie Hawtin, Rapper Boldy James bzw. Nathan Salsburg und einem Benefiz- Sampler für Ärzte Ohne Grenzen.
AARON FRAZER - Introducing
Fans kennen den Namen von der Band Durand Jones & The Indications. Was für eine Stimme! Ist es eine Frau oder ein Mann? Aaron Frazer singt Falsett und genau darin liegt ein Reiz seiner Stimme. Als Produzenten seiner ersten Platte konnte der New Yorker einen berühmten Fan gewinnen: Dan Auerback von den Black Keys hat das Debüt in Nashville produziert. Der schwärmt vom Sänger / Drummer Frazer: „er ist so unglaublich talentiert, spielt toll Schlagzeug und singt gleichzeitig dazu. Das trifft einen richtig. Ich liebe seinen Falsettgesang – er hat etwas so Verletzliches an sich.“ Frazer hat eine soziale Ader und spielte schon für die von Martin Luther King gegründete US-Organisation „The Poor People´s Campaign“. „Es ist ethisch wichtig, zu versuchen, Musik für das Gute zu nutzen. Wenn man etwas politisches zu sagen hat“, so Frazer, der aus Baltimore stammt, „sollte man es nicht verstecken, bis man danach gefragt wird. Auf meiner Platte halten sich fröhliche Lieder und eher politische Botschaften die Waage.“ Eben: true Soul. Retro-Soul-Fans kommen hier 101% auf ihre Kosten. (8,4 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Aaron Frazer - Can't Leave It Alone (Official Audio)
NATHAN SALSBURG – Landwerk No 2
Wenn die Zeit mal nahezu stillstehen darf: Musik aus Kentucky/USA - Akustik-Gitarre, Hall und Loops von knisternden Schellack-Platten (Klezmer, jiddische Folk-Songs und slowak. Bergarbeiter-Orchester aus Pennsylvania, wo die Salsburgs seit sechs Generationen leben). Bzw wie es der Künstler selbst sagt: "die Lieder sind Versuche, die Vergangenheit in die Gegenwart zu übersetzen, oder die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erlösen". Die vier - zwischen sieben und elf Minuten langen - kontemplativen Tracks passen wie die Faust aufs Auge für diese heruntergefahrenen Wochen. Pitchfork vergleicht Salsburgs Arbeitsweise der am 18.12. erschienenen Instrumental-Platte mit der von The Caretaker: auch der Brite loopt alte Knister-Schellacks (mit Big Band-Sound) und legt (weit mehr) Hall darüber. So dass man es mehr mit einem Echo als mit der Musik selbst zu tun hat. Das Ergebnis: hypnotisch. Kein Wunder: Salsburg arbeitet als Kurator fürs Alan Lomax-Archiv, stellt Compilations zusammen und macht Radiosendungen. Während „Landwerk“ (Vol 1, kam im Juli) näher am Folk blieb, bewegt sich die Fortsetzung weiter weg von der Tradition. Hier tut sich eine eigene Welt auf. Eine Entdeckung! (9,5 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
V (Through A Crystal Unluminous)
VIAGRA BOYS – Welfare Jazz
Mit dem ironischen Indie-Hit „Sports“ wurden sie berühmt. Wer gern Zeuge männlicher Selbstmontage ist, hier lang bitte. Ähnlich wie die Sleaford Mods spucken auch diese Typen Gift & Galle – oft gegen andere Männer bzw männliche Machtstrukturen. Das macht sie sympathisch und gibt ihrem oft negativ gestimmten Drive Laune: Saxophon-getriebenem Post-Punk – bzw wie sie es augenzwinkernd (sie kommen aus dem angeblichen Sozialstaat Nummer 1, Schweden) selbst beschreiben: „Wohlfahrtsjazz“. „Welfare Jazz“ ist nach zwei EPs der zweite Longplayer des Stockholmer Quartetts um den in den USA geborenen Sänger Sebastian Murphy. „Als wir die Lieder schrieben, war ich gerade in einer langen Beziehung – aber ich nahm jeden Tag Drogen und verhielt mich wie ein Arsch“, so Murphy. „Ich wusste gar nicht, was für ein Riesenarsch ich war – aber da war es schon zu spät. Viele der Texte handeln davon, dass ich ich die falschen Ziele hatte.“ Mit „In Spite of Ourselves“ befindet sich ein Cover des 2019 verstorbenen US-Bluegrass- und Country-Musikers John Prine auf der Platte. Doch, beim Country könnten sie eines Tages auch ankommen. (8,5 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Viagra Boys - Girls & Boys (From Shrimp Sessions 2)
FOUR TET – Parallel
Im Dezember gab es von ihm zwei Tracks mit seinen Freunden Thom Yorke und Burial auf Maxi, schon bescherte Four Tet seine Fans am Heiligabend – und zwar doppelt mit zwei Digitalben - mit „Parallel“ und „871“. Letztere ist eher experimentell und ruhiger gehalten („recorded between 1995-97“), „Parallel“ ist eher der heutige, der clubbige Four Tet. Diese scheint ihm auch wichtiger, denn „Parallel“ findet sich auf allen Streaming-Plattformen, „871“ gibz lediglich auf Bandcamp. Mein Favorit des Londoner DJ-Produzenten ist der Track „Parallel 4“, den er schon unter seinem unles- bzw unschreibbaren Pseudonym veröffentlicht hatte: ⣎⡇ꉺლ༽இ•̛)ྀ◞ ༎ຶ ༽ৣৢ؞ৢ؞ؖ ꉺლ. Zu finden auch via: https://00000ooooo.bandcamp.com). Vielleicht wollte er ihn endlich mal in die offizielle Zeichen-Welt einführen. Und Kieran Hebden kündigt an, dass Ende Januar schon ein gemeinsames Album mit dem HipHop-Beatbastler Madlib erscheinen soll. (8,0 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Four Tet - Parallel [Full Album] - 2020
CASPER CLAUSEN - Better Way
Die Fans kennen ihnen als Frontmann der dänischen Band Efterklang. Casper Clausen bringt am morgigen 9. Januar, an seinem Geburtstag, sein erstes Solo-Album raus. „Better Way“ heisst es hoffnunxvoll und bewegt sich zwischen elegischem Indie, melancholischen Pop und leichten Krautrock-Anleihen. Vielleicht spielt der Titel aber auf seinen Umzug von Kopenhagen nach Lissabon / Portugal an. Nachtmix-Chef Roderich Fabian ist schon Fan: „versponnen, souverän, ein Mann der 1000 Stile“. Ich glaube, ich brauche noch und höre einstweilen Efterklangs verzückenden Klassiker „Modern Drift“. (7,2 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Casper Clausen - Used To Think (Offical Video)
HAWTIN – Concept 1
Wann wurde aus Techno eigentlich Minimal? Vor einem Vierteljahrhundert! Jubiläums-Alarm: gerade hat DJ Hell auf seiner neuen Platte „House Music Box“ (war Zündfunk-Album Der Woche im Dezember) an einen Pionier des (später verhassten) Genres („Minimal my Ass“) erinnert: an Robert Hood und seine bahnbrechende „Minimal Nation“-Platte (von 1994). Der andere Minimal-Wegbereiter, Richie Hawtin, bringt nun seine genre-definierende zwölfteilige Maxi-Singles-Reihe „Concept“ nochmal raus - erstmals digital. Manchmal schimmert aus den 24 Tracks auch der skelettierte Funk von Helsinkis und Kölns kompromisslosen Sähkö- und Profan-Labels durch – auch sie treibende Kräfte Mitte der 90er in Sachen purer, klackernder Rhythmus. Richie Hawtin, der damals auch als Plastikman veröffentlichte, unterstützt mit dem Re-Release den Indies unter den Digital-Plattformen: er gibt die Tracks der „Concept“-Serie erstmal nur an Bandcamp – erst nach einem Monat, ab Februar, ploppen, sie dann bei Spotify & Co auf. Was auch auffällt: hier und da schleifte Hawtin damals auch schon rauschende Dub-Spuren in die Tracks. Man darf gespannt sein, wieviele Hörer*innen empört klagen – wie damals: was soll denn das bitte sein? das ist doch keine Musik mehr! Wo ist denn da die Melodei? Ich lass mich doch nicht von Maschinen verarschen … (8,5 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Richie Hawtin - "Concept 1 96:12"
STEVE EARLE & THE DUKES – J.T.
Eine Trauerplatte: J.T. steht für Justin Townes Earle. Der Sohn von Steve Earle verstarb im Sommer in Nashville/Tennessee mit nur 38 Jahren. Der Vater brachte zum 39. Geburtstag am 4. Januar eine Tributplatte raus - mit Songs aus der Feder des Sohnes, dessen Taufpate der berühmte Country-Outlaw Townes Van Zandt war. Der ergreifende „Harlem River Blues“ war schon vorab im Netz zu hören – 2011 bekam Justin Earle dafür den „Americana Music Award“. „Das Album heisst ´J.T.´ weil Justin nie einen anderen Namen hatte, bis er fast erwachsen war. Nun, als er klein war, nannte ich ihn ´Cowboy´“, erklärt Steve Earle. „Die Platte mit seinen Liedern einzuspielen, war der einzige Weg, den ich kannte, um auf Wiedersehen zu sagen.“ Die Platte schliesst mit dem Stück „Last Words“ - kein Cover, sondern ein Stück, das der Vater schrieb. Steves Band The Dukes begleiteten die Aufnahmen mit Gitarre, Fiddel, Pedal Steel, Bass und Schlagzeug. „J.T.“ ist ein Benefiz-Werk: die Einnahmen gehen an eine Stiftung für J.T.´s Tochter Etta St. James Earle. CD und LP kommen im März. (7,0 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Steve Earle & The Dukes - "I Don't Care" [Audio Only]
INVISIBLE TEMPLE – Self-Hypnosis
Langsame, elektronische Beats: man kann zuhause dazu tanzen – corona-freundliche Geste der beiden Produzenten, die sich Invisible Temple nennen. Die beiden Mönche im unsichtbaren Tempel sind Benjamin Fröhlich aus München und sein Kumpel Bostro Pesopeo. Der unsichtbare Tempel könnte ja der geschlossene Club sein, den weder die beiden DJ-Produzenten, noch wir, das Publikum, momentan von innen sehen können. Angenehm kontemplativ, dieses reduzierte Tempo. (7,5 von 10 Punkten)
HILANG CHILD – Every Mover (digital only)
Auch das tolle Bella Union-Label (Beach House, Father John Misty) bringt nun nicht mehr alle Veröffentlichungen physisch auf den Markt. Das zweite Album von Hilang Child ploppt morgen lediglich digital auf. Hinter Hilang Child – was soviel wie „vermisstes Kind“ heisst - steckt der walisisch-indonesische Musiker Ed Riman. „Every Mover“ ist eine Sammlung voller melancholisch gestimmter, moderner Pop-Songs – eher Keyboard- als Gitarren-orientiert. Dazu die markante, klare, helle Stimme von Hilang Child. Erinnert sie nicht ein wenig an die der Fleet Foxes – wie ein Robin Pecknold auf Synthie-Sound? Musikalisch ist er von den Beach Boys, Bat For Lashes und Steve Reich beeinflusst, beim Produzieren half Rapper Kwes. Hilangs Bruder Haley hat den Clip zum ebengehörten „Anthropic (Cold Times)“ gedreht. Da wird noch geskatet. Im Sommer. In London. Unter der Sonne. Hach! (7,0 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Hilang Child - Anthropic (Cold Times)
GRIMES – Miss Anthropocene (Remixes)
Sie hat mal gesagt, dass sie „Popstars studiert“ hat. Die Kanadierin Claire Boucher hat einen breiten Musikgeschmack: mal klingt sie nach Enya oder Mariah Carey mit heutigen Mitteln – dann bricht wieder ihre Zeit aus dem Underground in Montréal durch. Und verbindet RnB mit EDM und Punk – für den Overground. Auf der am Neujahrstag erschienen Remix-Ausgabe ihres letzten Album „Miss Anthropocene“, bahnt sich Grimes auch den Weg zum typisch Berliner Sound – zu Techno. Auf der „Rave Edition“ hören wir ihre Songs in Bearbeitungen ua von Modeselektor, Ame oder dem Wahlberliner Kanadier Richie Hawtin (aber auch aus Frankfurt - Julien Bracht - bzw in US-House gedreht - von Channel Tres). Ich stelle mir grad vor, wie das Paar Grimes & Elon Musk ein Picknick in Brandenburg macht – und ihre Remix-Freunde von Modeselektor und Richie Hawtin sitzen mit auf den fliegenden Decken. Oder legen bei der Einweihung der Tesla-Fabrik Grünheide auf. Sorry, Giga-Factory. (6,8 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Delete Forever (Channel Tres Remix)
TRAKA – Start Taking Note
Musik aus Serbien hatten wir schon länger nicht mehr – Traka kommen aus Belgrad und jagen ihre schweren Basslines durch die Verzerrer. Die Lieder ihrer Mini-LP/EP kommen wie kaputter UK Bass daher. Beim Titelsong haben sie Killa P ins Mikro geholt, früher bei der britischen Grime-Truppe Roll Deep – und Kollaborator von The Bug. Traka, die sich auch als Graffiti-Crew sehen, packen hier harte Beats aus und liefern Clubmusik, die auch für Punk- oder Metal-Hörer interessant sein sollte. (7,0 von 10 Punkten)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Start Taking Note
JAZMINE SULLIVAN – Heaux Tales
Hä? „Heaux“? Ach so, die französische Schreibweise des englischen Schimpfwortes „ho(e)“ - wiederum die Kurzform von „whore“. Es ist das vierte Album der die zig-fach Grammy-nominierten RnB-Sängerin aus Philly. Ihre Vorbilder sind / waren Brandy, Beyonce, Lauryn Hill. Jazmine begann als Missy Elliott-Protegée – von Anfang an mit Major-Deal in der Tasche. Zur neuen Platte sagt sie: „die Wahrheit ist, dass Frauen jeden Alters irgendwann im Leben als 'heaux' bezeichnet wurden, ob verdient oder nicht, von einem Mann, der versucht hat, uns in unsere Schranken zu weisen; eine Schranke, die dazu dient, uns unter Kontrolle zu halten, aus dem Weg zu gehen und normalerweise unter ihnen zu sein. Frauen sind es leid, sich für die Entscheidung zu schämen, die wir in Bezug auf unseren Körper getroffen haben oder treffen wollten." Leider waren nur drei Songs vorab zu hören - „Lost One“ und „Pick Up Your Feelings“ haben aber schon Millionen von Streams – vermutlich in den USA, wo sie längst eine große Nummer ist. (ohne Wertung)
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Jazmine Sullivan - Heaux Tales: Part Four