RIDE – Interplay

Sie gelten als Miterfinder des Shoegaze-Sounds der zweiten Welle, der 90er. Nun kommt ihr siebtes Album, das die Fans angenehm überraschen dürfte. Ride im Hier und Jetzt, ohne die Wurzeln zu verleugnen. Keine Platte war so von Auf und Abs begleitet wie diese, so einer der beiden Sänger/Gitarristen Andy Bell: „aber die Band steht nun gut da“. Die Songs handeln von Eskapismus, Träume und die Unzufriedenheit mit dem modernen Leben. Wer sich vor zehn Jahren über ihr Comeback gefreut hat, wird sich nun bestätigt fühlen, dass die Band aus Oxford nach Slowdive die nächste Formation des Genres werden dürfte, die auch von der neuesten Shoegaze-Generation gehört wird. Man nehme nur die Singles „Last Frontier“ und „Peace Sign“ – beide mit dynamischen New Order-Drive – vielleicht werden auch sie via TikTok hochgespült. (7,8 von 10 Punkten)

BEYONCÉ – Cowboy Carter (Act II)

Wer Beyoncé kennt, der weiß: Sie ist den letzten Jahren zu einer genauen Beobachterin für leicht übersehene, afro-amerikanische Einflüsse diverser Pop-Genres geworden. Zuletzt schürfte sie nach den schwarzen Wurzeln von Disco und House. Und auch im Country wurden die afro-amerikanischen Spuren lange zu wenig gewürdigt. Eine verständliche Agenda, die Queen Bee hier verfolgt. Und eine fette Promo-Maschine, die ihr Anliegen verbreitet – sowohl bei der Grammys-Verleihung als auch in der Werbepause des Superbowls spielte sie schon zwei Songs ihres achten Studio-Albums: „16 Carriages“ und „Texas Hold 'Em“ – ein Stück übers-in-die-Spelunke-Gehen-und-langsam-miteinander-tanzen. Wobei das Lied über die „16 Kutschen“ tatsächlich das langsamere und verständlichere der Beiden ist: „16 Kutschen, die wegfahren, Während ich ihnen zusehe, wie sie mit meinen Ängsten wegfahren, Auf einer langen Landstraße, alle Tränen, die ich kämpfe, 16 Kutschen, die wegfahren, 16 Dollar, den ganzen Tag arbeiten.“ Leider war´s das schon mit dem Vorab-Hören: Sie erlaubt keine Presse-Streams vor der Veröffentlichung. So können wir „Cowboy Carter (Act II) leider nicht bewerten“ (keine Wertung). 

SHABAZZ PALACES – Exotic Birds of Prey

In den 1990ern war er als Teil der Digable Planets einer der Ersten, der Jazz und HopHop verband. Nach seiner Rückkehr von New York nach Seattle hat der Produzent, Musiker und MC Ishmael Butler eine neue Band gegründet: Shabazz Palaces machen zwar auch Rap und Jazz – aber auf ganz anderer Weise. Mit digitalem Funk & Soul und Avantgarde-Sounds – das Ergebnis ist meist eine afro-futurististische Herausforderung für Pop-verwöhnte Ohren. „Angela“ dürfte der Hinhörer werden – mit Stas THEE Boss von ihren Rap-Freundinnen THEESATISFACTION – durch die 2. weibliche Stück von Irene Barber klingt es fast nach Björk-Vocals.  Die neue Mini-LP „Exotic Birds of Prey“ ist Teil 2 von „Robed in Rareness“, die im Herbst kam – zusammen ergeben die beiden Mini-Alben ein eigenes Gesamtwerk. Shabazz Palaces beliefern die Fans nun aber doppelt physisch: „Robed in Rareness“ und „Exotic Birds of Prey“ erscheinen nun zeitgleich in den Plattenläden. Verstörend ist das Robed-Cover, auf dem man Ishmael mit zwei echten Riesenschlangen sieht. Shabazz gehen in allen Belangen auf Risiko. (7,7 von 10 Punkten)

HIGH LLAMAS – Hey Panda

Die Fans schätzen sie als verspielten Easy Listening/Bossa Nova/Indie-Pop-Geheimtip der 1990er: der sanfte Sound-Mix des Iren Sean O´Hagan wurde oft mit den Beach Boys verglichen. Er spielte bei Stereolab und gründete später eine weitere Band: Microdisney. Und landete tatsächlich auch mit Beach Boys-Kopf Brian Wilson im Studio. Das Ergebnis, ein paar gemeinsame Songs, kann man auf dem 98er Album „Cold And Bouncy“ hören. Nach langer Pause kehren die High Llamas zurück. Der Albumtitel stammt aus dem Lockdown, als O´Hagan auf TikTok einen lustig futternden Panda folgte, was ihn fröhlich stimmte. Nach 40 Alben und acht Soundtracks schraubt Sean weiter an den technischen Möglichkeiten des modernen Pop. Auch wenn man es nicht hört, wir haben es hier mit einer Verbeugung vor HipHop-Beat-King Jay Dilla zu tun. Dank seiner Kinder ist Sean auch Fan von Tierra Whack oder Tyler, The Creator. Solo hat er schon Billie Eilish- und Bonnie ´Prince´ Billie-Songs gecovert. Auf dem neuen Band-Werk zählen auch die zeitlosen Arrangements-Künste von Miles Davis, Quincy Jones und Sault zu seinen Inspirationen. Tracks wie „Sisters And Friends“ und das Titelstück sind nun selbst kleine Produktionswunder geworden. Verspielter Art-Pop, mit vielen Überraschungen für Pop-müde Ohren. (8,4 von 10 Punkten)

EDNA MILLION – The Pool

Diese Stimme! Dieses Timbre!! Dieser Ausdruck!!! Die Wienerin war zum Studium nach Berlin gezogen. Dort nahm sie als Edna Million ihre erste EP auf. „The Panther Walks In Circles“, zusammen mit „Rattling Coins“, ist auf dem Debüt zu hören. Es ist äußerst sparsam instrumentiert, meist nur mit Akustik-Gitarre, so bleibt genug Raum für den brüchig-spröden Gesang. Gänsehaut! Edna ist inzwischen weitergezogen in das Land, in dem ihre Grossmutter ein Hotel betrieb – „She Uses To Run A Hotel“ heißt der Song dazu. Sie wohnt inzwischen in Göteborg. Der Name „Edna“ ist keine Anspielung an Schweden, er stammt aus einem Tom Waits-Lied. von seinem berühmten „Rain Dogs“ Album: „Jockey Full Of Bourbon“ („Edna Million in a drop-dead suit“/„Edna Million einem todschicken Anzug“). Wie sagt es FM4-Kollege Robert Rotifer so passend: „Das androgyne Timbre ihrer dunklen Stimme bricht radikal mit Gender-Erwartungen, ohne dabei je die Ruhe zu verlieren.“ Produziert wurde die Platte von Klangkünstler Kalle Laar, der zwischen München und Wien pendelt. Er hatte zuvor schon Ernst Molden produziert, der hier beim Titelsong zweite Gitarre spielt. Er arbeitet das heraus, was sie hat und ist: the voice of wonder, the wonder of voice! (8,5 von 10 Punkten)

CHASTITY BELT – Live Laugh Love

Bisher kennen wir sie als Noise-Pop-Band. Doch schon bei der Vorab-Nummer „Chemtrails“ hören wir einen Kurs-Wechsel der US-Amerikanerinnen – hin zu Shoegaze. In dem Stück geht es um Erinnerungen, die man/frau nicht loslassen: „Gedanken hinterlassen Spuren wie Chemtrails in meinem Kopf“, singt Julia Shapiro. Den Album-Titel finden wir als Tattoo auf Julias Körper: „Live Laugh Love“ steht auf ihrem linken Knöchel. Ihre frühen Hits heißen „Pussy Weed Beer“, „Giant Vagina“ und „Pissed Pants“ – heute wirken sie ernsthafter. Aber auch zuversichtlicher: "Je älter ich werde", sagt Shapiro über die Texte, "desto mehr erkenne ich, dass ich mich vielleicht immer so fühle, und dass es mehr darum geht, mit dem Gefühl zu leben und es zu akzeptieren, als zu versuchen, es zu bekämpfen." Ende Mai und Anfang Juni spielen sie in Wien, Leipzig, Berlin und Köln – sowie auf den Immergut-Festival. (7,6 von 10 Punkten)

GLASS BEAMS – Mahal EP

Eine neue EP einer Band, die Elemente der globalen Musikkultur in ihren Mix aufnimmt und dann zu instrumentalen Downbeat - Nummern vermengt. Glass Beams, ein neues australisches Trio, die wie eine indische Version von Khruangbin klingen, weil sie die indischen Elemente mit trockenem Downbeat-Sound und funky Minimal-Schlagzeug kreuzen. Eine der drei Glass Beams Musikerinnen - Rajan Silva - ist Tochter eines indischen Einwanderers in Melbourne,Australien. Papa war Fan des legendären indischen Sitarspieler, Ravi Shankar und dessen Tochter Anoushka. Die Glass Beams nennen ihren Sound „psychedelischen Arabesque-Pop“ – und er kommt an: die Songs der beiden EPs erreichen schon als mehr 10 Millionen Streams. Das Konzert im Berliner Silent Green war ausverkauft – genau wie es alle Termine ihrer kommenden Europa-Tour sind – und viele Städte ihrer anstehenden US-Tour. Am 7. September 2024 gastieren sie in München - beim Superbloom Festival auf dem Olympiagelände. (8,3 von 10 Punkten)

OMAR SOULEYMAN – Erbil

Wenn es ein Genre gibt, dass in den letzten Jahren bei unserern Zündfunk-Partys immer besser ankommt, dann neue Tanzmusik aus SWANA – Südwestasien/Nordafrika. Also viele arabische und türkische Tracks zum Beispiel von Acid Arab, Altin Gün oder Derya Yıldırım & Grup Şimşek. Und natürlich von ihm: der Syrer Omar Souleyman. Sein neues Album erscheint wieder auf Diplos Mad Decent – Label, der US-amerikanische DJ-Produzent, der Einflüsse aus aller Welt verarbeitet. Auf „Erbil“ bedankt sich der Hochzeitsmusiker, der schon 500 (!) Live-Alben veröffentlichte, bei der irakischen Stadt, in der er seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs lebt. „Der Umzug brachte viel neue Erfahrungen und Freundschaften“. Die feiert er in acht fröhlichen Stücken im gewohnten Techno-Dabke-Stil. Dabke, der orientalische Folklore-Tanz, wird eingespielt vom Keyboarder Hasan Jamo. Davor arbeitete er schon mit europäischen Kollegen wie Four Tet, Gilles Peterson und Modeselektor u nd spielte auf Festivals wie Glastonbury, Roskilde oder Pitchfork. Und, Überraschung: beim Friedensnobelpreiskonzert 2013. Neue Songs wie „Ma Andi Gherak Mahbuub“, „Male Atab“ und „Rahat Al Chant Ymme“ werden seinen Ruf als eine Ikone des neuen Global Pop festigen. Bringen wir auf die nächsten Zündfunk-Party mit! (7,9 von 10 Punkten)

ROMARE – Here Comes The Night EP

In den Zehnerjahren entwickelte der britische DJ-Produzent einen neuen Stil: Deep House voller Jazz-, Soul- und Blues-Samples. In kleinen Dosierungen blitzen zwischen seinen Clubs-Beats von heute alte Vinyl-Sounds der Musikgeschichte hervor. 2024 heisst es endgültig: Micro-Sampling adé bei Archie Fairhurst aka Romare. Vielleicht liegt es am veränderten Umgang mit Sampling, sprich dem etwaigen Vorwurf „kultureller Aneignung“. Die ersten drei House-Tracks erreichen denn auch nicht die gewohnte „Historizität“, wirken ungewohnt leer für ihn - erst in der zweiten Hälfte der EP, wenn Romare das Tempo reduziert, findet er zu seiner Tiefe zurück. (8,0 von 10 Punkten)

3 SEKUNDEN – Der Deutsche Frühling

Ein neues Duo aus München: das Debüt von Lenz Lehmair und Rainer Sladek, früher bei den Animal Crakers. Wegen dieser Band wurde das Puch-Festival gegründet, damit sie ihren düsten Sound auch live präsentieren konnten. 3 Sekunden ist die Zeitdauer des Augenblicks, der gefühlten Gegenwart. Oder wie PeterLicht in seinem Hit „Sonnendeck“ sang: „alles was ist, dauert drei Sekunden, eine für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin“. Die beiden Routiniers fordern sich mit neuem Sound heraus: klasse Synthie-Pop und ebensolchen Texten. Der Titel “Deutscher Frühling” ist eine Anspielung an den sogenannten „Deutschen Herbst“ – die Zeit der RAF-Attentat, die als bleierne, schwere Zeit empfunden wurde. Auf dem Debüt lernen wir, was Menschen alles inszenieren - bis zum Blau des Himmels. Wir folgen dem schwulen, kommunistischen Dichter Ronald Schernikau vor Mauerfall zurück in die DDR. Und es wird sich einzigartig entschuldigt: für die deutsche Geschichte, für die Massentierhaltung, und ganz poetisch: für die Dornen die Rosen. Diese 3 Sekunden sind eine der angenehmsten Arten, Gegenwart darzustellen und zu erleben. (8,1 von 10 Punkten)

KELLY MORAN - Moves in the Field

Schon Aphex Twin und Krautronica-Pionier Conrad Schnitzler spielte damit; dem Disklavier, dem sogenannten Reproduktions-Klavier aus Japan. Man kann auf ihn mit oder zu seinen eigenen Aufnahmen spielen. Die Tasten des Disk(k)laviers bewegen sich wie von Geisterhand. Die US-Avantgarde-Pianistin Kelly Moran spielt seit dem Corona-Lockdown damit, und hat so einen Ersatz für Duettpartnerinnen gefunden. Damit klingt Moran, die auch schon mit Pop-Avantgardisten wie FKW Twigs, Yves Tumor oder Oneohtrix Point Never arbeitete - weiter vom klassischen Klavierspiel entfernt als bisher: „das Disklavier ermöglichte es mir, mehrere Schichten meines Spiels aufzuzeichnen, sodass ich Musik auf dem Klavier kreieren konnte, die mehr Finger oder eine größere Ausdauer erfordert, als ich physisch habe. So wie Akkorde mit mehr als zehn Noten, oder Akkorde, die weiter auseinander liegen, als meine Hände sich dehnen können. Manchmal nahm ich ein Pattern auf und beschleunigte es, um es schneller abzuspielen, als ich es je körperlich könnte. Meine Vorstellungskraft explodierte angesichts all der Möglichkeiten". Kelly stellt das Album am 18. April 2024 im Silent Green / Berlin – und am 25. und 26. Mai in Düsseldorf beim Approximation Festival vor. Die Platte erscheint am 28. März 2024, dem World Piano Day (immer am 88. Tag im Jahr - soviel wie ein Klavier Tasten hat).

(7,5 von 10 Punkten)