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Wahrheit und Politik Hannah Arendts Theorie des Sündenfalles

"Wie können wir denn entscheiden, was Wahrheit ist?", fragt Hannah Arendt im Jahr 1963. Frühere Definitionen zählen für sie nicht mehr. Denn nach der Shoah stellt sich die Frage der Wahrheit für die politische Denkerin ganz neu.

Von: Thomas Meyer

Stand: 27.11.2015 | Archiv

Die Philosphin Hannah Arendt | Bild: picture-alliance/dpa

Für den New Yorker berichtete Hannah Arendt 1961 über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem. Als SS-Obersturmbannführer und Beamter des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin hatte Eichmann massgeblich die Deportation der europäischen Juden in die deutschen Vernichtungslager organisiert. 1963 erschien Hannah Arendts Buch über den Prozess: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Darin versucht sie das Ungeheure zu verstehen und gleichzeitig der Dämonisierung und Mythisierung Eichmanns entgegenzuwirken.

"Wahrheit ist das, was der Mensch nicht ändern kann."

Hannah Arendt

Eichmann in Jerusalem

Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht.

Dabei kommt sie immer wieder auf eine ganz grundlegende Frage zurück: Warum halten so viele Menschen in totalitären Regimen Lügen und Unwahrheiten durchweg für die Wahrheit? Die Antwort darauf ist so leicht nicht zu finden. Aber immerhin leitet Hannah Arendt aus der Frage eine ganz klare Schlussfolgerung ab: Nach der Shoah, nach dem Massenmord an den europäischen Juden muss die Frage nach der Definition von Wahrheit neu gestellt werden. Doch mit Eichmann in Jerusalem löst Hannah Arendt vor allem eine scharfe Auseinandersetzung aus. Arendts Ton wurde von vielen als schnoddriges und ironisches Naserümpfen empfunden. Andere fanden ihre Kritik an den so genannten "Judenräten" unerträglich, weil sie aus der Sicherheit des Exils formuliert war. Und musste sie den Rabbiner Leo Baeck, der das KZ Theresienstadt überlebt hatte, wirklich "Führer" nennen?

Wahrheit und Politik

Nicht nur die Beantwortung dieser Vorwürfe und die Widerlegung vermeintlicher Lügen über ihren Bericht über die Banalität des Bösen und über ihre Person waren ihr wichtig. Weitaus bedeutsamer schien es ihr, die Vorwürfe zu einer Nachfrage zu nutzen: Es war ihr um die Wahrheit gegangen. Aber wenn sie die Wahrheit ausgesprochen hat, wieso dann diese Reaktion? Der Vorwurf gegen Hannah Arendt lautete, sie habe die Begriffe Wahrheit und Politik zu eng verknüpft. Mehr noch, sie habe ihre Wahrheit, ihre Sicht von Adolf Eichmann und seiner Verbrechen zur Wahrheit gemacht. Arendts Überlegungen sind nichts anderes als ein Aufbruch ins Unbekannte, Unbedachte. Genau das aber nahm man ihr übel: den vielbeschworenen "Zivilisationsbruch" zu instrumentalisieren, um ihre, ihre eigene Wahrheit durchzusetzen.

Dimensionen der Wahrheit

Doch Hannah Arendts Gegenüberstellung von Wahrheit und Politik war nicht bloß Partygeschwätz. Sie rief zu einer doppelten radikale Revolution auf: gegen die Philosophie, die sich den Wahrheitsbegriff aus ihren Händen gleiten ließ. Und gegen die manipulative Kraft der Politik in den modernen Diktaturen, die keinerlei Grenzen mehr kannte. Vor diesem Hintergrund erschließt sich Arendts Aussage von 1969:

"Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt."

Hannah Arendt

Ihre Hoffnung aber, man könne von einer ausdrücklich politischen Theorie ausgehend ein Bild vom Menschen und seiner Wahrhaftigkeit entwickeln, das dem völlig geänderten Verhältnis von Wahrheit und Politik entspricht, hat sich bis zu ihrem Tod 1975 nicht verwirklichen lassen.

Rückkehr zur Philosophie?

Was nicht heißt, Arendt ist damit gescheitert. Ihr blieb vielmehr nicht die Zeit, die Gedanken dazu in systematischer Weise auszubauen. Man sieht förmlich, wie in ihrem unvollendet gebliebenen Werk Vom Leben des Geistes die Kraft fehlt. Aber ist das wirklich der Grund? Wir haben doch jetzt schon sehr viel zusammentragen können, was man emphatisch "Arendts Wahrheitsbegriff" nennen könnte. Und ist es wirklich so verwegen, wenn wir sagen, sie habe mit der Unveränderlichkeit der Wahrheit einfach eine Rückkehr zur Philosophie einleiten wollen?

Literaturhinweise:

  • Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper, 2011.
  • Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper, 1995.
  • Hans Blumenberg: Rigorismus der Wahrheit. "Moses der Ägypter" und weitere Texte zu Freud und Arendt. Berlin: Suhrkamp, 2015.
  • Marie Luise Knott (Hrsg.): Hannah Arendt / Gershom Scholem. Der Briefwechsel. Berlin: Jüdischer Verlag, 2010.

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