Sphinx ohne Geheimnis Die politische Philosophie von Leo Strauss
Was ist politische Philosophie? Diese Frage trieb Leo Strauss lebenslang um, von Marburg bis Chicago. Seine Antwort ist streitbar, und so schätzten ihn Walter Benjamin und Gershom Scholem genauso wie die Neokonservativen der USA.
"Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen...", schreibt Goethe in seinem West-östlichen Divan. Eine Liebeserklärung an den persischen Dichter Hafis, an den Islam, an den Gedankenaustausch. 200 Jahre alt. Ein Buch-Islam, zugegeben, eine Dichterliebe. Aber irgendwie muss man zu verstehen suchen, was hinter dem Terror im Nahen Osten, oder bei den Anschlägen in Paris und Kopenhagen steht. Und in dem klassischen Werk steckt noch viel mehr drin.
"Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, der alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens."
Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan
Deshalb lohnt es sich gerade jetzt denjenigen zu lesen, der dieses Zitat immer wieder benutzte, um auf die grundsätzliche Bedeutung eines Konfliktes aufmerksam zu machen, den wir immer nur dann bemerken, wenn es zu spät ist. Und das ist Leo Strauss, geboren am 20. September 1899 in Kirchhain, einem kleinen Städtchen in Hessen mit damals etwa 2.400 Einwohnern. Davon knapp zehn Prozent Juden. Orthodoxe Landjuden, die zum Teil seit Generationen hier lebten, Handel trieben und die bei aller Strenggläubigkeit integriert waren.
Von Kirchhain in Hessen nach Chicago
So wie Strauss‘ Familie, die hier mit Getreide handelte und damit zu einigem Vermögen gekommen war. Sowohl sein Großvater wie auch sein Vater übernahmen öffentliche Ämter, förderten den Synagogenbau, engagierten sich politisch im Stadtrat, führten Prozesse, um ihre Rechte durchzusetzen. Eine normales Zusammenleben von Juden und Christen – definitiv ja; eine alltägliche deutsch-jüdische Symbiose – definitiv nein. Strauss wuchs mit der Gewissheit auf, dass die Unterschiede akzeptiert werden, mal aus pragmatischen, mal aus praktischen Gründen.
"Ich glaube, ich kann ohne jede Übertreibung sagen, dass seit einer sehr, sehr frühen Zeit das Hauptthema meiner Überlegungen war, was man die ‚jüdische Frage‘ genannt hat. Ich möchte nur eine Geschichte erzählen, die weit zurück in meine Kindheit reicht. Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, in einer sehr kleinen deutschen Stadt, eher in einem Dorf, als ich in meinem Vaterhaus Flüchtlinge aus Russland sah, die nach einigen Pogromen auf ihrem Weg nach Australien waren. Zu dieser Zeit hätte das nicht in Deutschland geschehen können. Wir Juden lebten in einem umfassenden Frieden mit unseren nichtjüdischen Nachbarn. Doch die Geschichte mit den Pogromen in Russland machte einen tiefen Eindruck auf mich, den ich bis heute nicht vergessen habe."
Leo Strauss im Februar 1962 in Chicago
Zeit seines Lebens also befasste sich Leo Strauss mit der 'jüdischen Frage'. Man könnte auch sagen, mit dem Verhältnis von Glaube und Unglaube. Oder, noch einmal anders gewendet, mit dem Verhältnis zwischen Philosophie und Religion.
Unglaube oder die Rolle der Philosophie
Denn schon früh sah Leo Strauss die Grenzen der liberalen Gesellschaft. Sie würde Juden und ihre jüdische Frage zwar akzeptieren, aber mehr nicht. Eine Art sanfter Zwang zur Assimilation. Ganz nach dem Motto: Wenn Du auf Deine Besonderheiten verzichtest, darfst Du ein normaler Bürger werden. Und die Orthodoxie – das war für Strauss eine Scheinwirklichkeit, in der so getan wurde, als könne immer alles beim Alten bleiben. Für ihn aber rieb sich die Orthodoxie in der Apologie auf. Nichts Lebendiges also. Dann schon eher die Bildung eines eigenen jüdischen Staates. Aber das ist nur die halbe Miete. Die andere Frage war für ihn: Welche Rolle spielt die Philosophie, die doch für das Judentum traditionell den Unglauben repräsentierte, in dieser Konstellation? Die Antwort auf diese Fragen fand Leo Strauss in seiner politischen Philosophie, die bis auf den heutigen Tag nachwirkt.