Die Anwerbung "Musterung wie beim Militär"
Türken mussten sich peinlichen Medizinchecks unterziehen, bevor sie ins "gelobte Land Almanya" reisen durften. Und nach der elend langen Zugfahrt von Istanbul nach München wartete in Deutschland auch noch so manche Überraschung.
Angeworben wurden potenzielle türkische Arbeitskräfte in der Regel entweder über deutsche Behörden oder von den interessierten Unternehmen selbst vor Ort. Im ersten Fall leiteten deutsche Arbeitsämter die Anfragen der Firmen in die Türkei weiter. Die Arbeitsämter dort trafen dann eine Vorauswahl. Die Reise nach Deutschland organisierte die in München ansässige "Weiterleitungsstelle" in Kooperation mit dem Amtlichen Bayerischen Reisebüro (ABR).
Im zweiten Fall sondierten Vertreter von Unternehmen selbst in der Türkei. War das Gespräch erfolgreich, bekam der Angeworbene einen Arbeitsvertrag, mit dem er sich auf dem deutschen Konsulat ein Visum ausstellen lassen konnte. In diesen Fällen hatten die Arbeitssuchenden zudem die Chance, außertariflich bezahlt zu werden.
"Die sind vom Krieg übriggeblieben"
Doch bevor ein Bewerber die Reise nach Almanya tatsächlich antreten konnte, musste er sich bei der sogenannten "Deutschen Verbindungsstelle" in Istanbul melden. Verlangt wurden etliche Dokumente vom Personalausweis über Impfbescheinigungen bis hin zum Strafregisterauszug, deren Beschaffung in der Türkei bis zu einem halben Jahr dauern konnte.
Zudem hatten sich Türken im Unterschied zu Italienern oder Spaniern umfangreichen medizinischen Tests zu unterziehen, die nicht wenig Bewerber als demütigend empfanden. Frauen und Männer mussten sich nicht selten nackt ausziehen, bei letzteren wurden zum Teil sogar die Geschlechtsorgane untersucht. Mancher Kandidat fühlte sich angesichts dieser Prozedur an die "Musterung beim Militär" erinnert. Ein Gastarbeiter ging noch weiter: "Damals waren das Ärzte, von denen wir sagten: 'Die sind vom Krieg übriggeblieben'."
1.500 Kilometer im Nahverkehrszug
Mit Gesundheitszertifikat und Arbeitsvertrag bekam der Gastarbeiter eine Legitimationskarte, die befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beinhaltete. Waren alle Anforderungen erfüllt, folgte eine strapaziöse Zugreise über Bulgarien und Jugoslawien nach Deutschland unter teilweise unzumutbaren Bedingungen. Bei einer Reisedauer von mehr als 50 Stunden waren manche Waggons nicht beheizt, bei anderen fehlte das Licht. Die Bundesbahn setzte immer wieder auch Nahverkehrszüge ohne Abteile ein, mit Sitzen ohne Kopfstütze.
"Der Zug - also Schlimmeres kann man wahrscheinlich nicht erleben", erzählte ein türkischer Gastarbeiter im Rückblick auf seine Anreise. Diese Prozedur ging über Jahre, bis Josef Stingl, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, 1970 damit drohte, auf Flugreisen umzusteigen. Die Bahn setzte daraufhin ganzjährig Abteilwagen ein.
Jahr | Italien | Griechenland | Türkei | Jugoslawien | Gesamt |
---|---|---|---|---|---|
1960 | 93.250 | 9.500 | - | - | 102.750 |
1961 | 107.100 | 21.500 | 2.100 | - | 130.700 |
1962 | 76.690 | 31.930 | 11.040 | - | 119.660 |
1963 | 31.830 | 40.600 | 23.430 | - | 95.860 |
1964 | 26.570 | 40.620 | 54.910 | - | 122.100 |
1965 | 26.550 | 33.240 | 45.560 | - | 105.350 |
1966 | 13.405 | 26.876 | 32.538 | - | 72.819 |
1967 | 3.978 | 1.945 | 7.222 | - | 13.145 |
1968 | 10.416 | 24.254 | 41.496 | - | 76.166 |
1969 | 10.215 | 51.253 | 98.172 | 71.690 | 231.310 |
1970 | 7.405 | 49.792 | 95.660 | 106.462 | 259.319 |
1971 | 4.284 | 30.324 | 63.784 | 73.418 | 171.810 |
1972 | 2.158 | 16.623 | 62.433 | 47.791 | 129.005 |
Quellen |
---|
Bundesanstalt für Arbeit und Dokumention "Zur Geschichte der Gastarbeiter in München".
Anmerkungen: Mit Jugoslawien gab es erst 1968 ein Anwerbeabkommen, der Knick in den Jahren 1966-68 erklärt sich aus der damaligen Rezession. |
Empfang im "Bunker"
Die Sonderzüge aus der Türkei trafen im Münchner Hauptbahnhof am Gleis 11 ein. Von dort wurden die Neuankömmlinge zunächst in einen direkt daneben befindlichen, 500 Quadratmeter großen Raum geführt, einen ehemaligen Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Caritas verteilte die erste warme Mahlzeit nach der elend langen Zugfahrt. Wer nicht sofort weiterreisen konnte, hatte die Möglichkeit, im "Bunker" - die Bezeichnung wurde trotz eines Protests des italienischen Konsuls nicht geändert - zu übernachten. Für den Rest ging es weiter zum Zielort oder zum jeweiligen Betrieb bzw. Firmenwohnheim in München.
Blähungen im Mehrbettzimmer
Nach der anstrengenden Reise wartete dort für so manche Gastarbeiter die nächste Überraschung: Statt der erwarteten Einzelunterkunft wies man ihnen Mehrbettzimmer zu, teilweise in Baracken aus der NS-Zeit. Anfang der 1960er-Jahre hatten manche dieser Räume bis zu 24 Schlafstellen, jeder Person standen vier Quadratmeter zu. Ein Gastarbeiter: "Sie können sich vorstellen, der eine raucht, der andere säuft, wieder ein anderer hat Blähungen (...) Ich war sehr enttäuscht, weil die Informationen nicht richtig waren." Später wurden die Sammelunterkünfte so eingerichtet, dass die räumlichen Verhältnisse nicht mehr so beengt waren.
Auszug aus einer Wohnheim-Hausordnung
" (...) 3. Es ist streng verboten, die Möbel zu verrücken (...) 8. Es ist nicht erlaubt, angezogen im Bett zu liegen (...) 10. Es ist nicht erlaubt, Fotografien oder Zeitungsausschnitte auf den Mauern oder Möbeln der Zimmer anzuheften (...) 16. Bevor Sie das Licht im Zimmer anmachen, müssen Sie die Vorhänge zuziehen (...) 20. Den Besuch von Frauen oder anderen Fremden können wir in den Gemeinschaftsunterkünften nicht erlauben."
Aus: Franziska Dunkel, Gabriella Stramaglia-Faggion. "Für 50 Mark einen Italiener". Zur Geschichte der Gastarbeiter in München
In den Wohnheimen waren Männer und Frauen separat untergebracht. Dass Damenbesuch - sofern unter diesen Verhältnissen überhaupt denkbar - nicht erlaubt war, lag am damals geltenden sogenannten Kuppeleiparagraphen. Sogar Verheiratete mussten anfangs oft getrennt leben, wenn die Partner jeweils mit einem eigenen Anwerbevertrag gekommen waren.