Integration? "Wohnung nicht an Türken"
Der Plan war, dass sie bald wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren. Doch die Türken blieben. Deutschland verstand sich jedoch nicht als Einwanderungsland. Integrationspolitik: Fehlanzeige - mit weitreichenden Folgen bis heute.
Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen hatte ursprünglich festgelegt, dass Arbeitsvertrag und Aufenthaltsrecht maximal auf zwei Jahre befristet sind. Auch Familiennachzug war zunächst nicht vorgesehen. Die Gastarbeiter sollten sich erst gar nicht eingewöhnen, sondern baldmöglichst wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren.
Stattdessen sollten neue angeworben werden. "Rotationsprinzip" nannte man das. - was sich schnell als Illusion herausstellte. Allein schon die Unternehmen waren wenig begeistert, gerade angelernte Arbeitskräfte gleich wieder abzugeben und ständig neue auszubilden. 1964 wurde die Beschränkung auf einjährige Arbeitsverträge aufgehoben. Nach und nach stellten sich viele Türken doch aufs Bleiben ein.
"Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen"
Doch entsprechend der urspünglich restriktiven Version des Anwerbeabkommens hatte die deutsche Politik keinerlei Maßnahmen zur Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer getroffen: wenig Amtshilfe, keine Sprachkurse - im Gegensatz etwa zu Schweden, das die Firmen verpflichtete, ihren Gastarbeitern Unterricht in der Landessprache zu erteilen. In der Bundesrepublik war Integration schlicht und einfach nicht gewollt. Zuwanderung wurde ausschließlich unter ökonomischen Aspekten betrachtet, nicht unter sozialen. "Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen", lautet der berühmt gewordene Satz von Max Frisch.
Eine soziale Betreuung für die überwiegend muslimischen Türken übernahm lediglich die nicht konfessionell gebundene Arbeiterwohlfahrt. Ausländische Arbeitnehmer mit Ambitionen auf Deutschkenntnisse mussten Kurse aus eigener Tasche bezahlen, in der Freizeit absolvieren und dafür überdies nicht selten einen zweiten Job annehmen.
1965 ergriffen die Türken selbst die Initiative und richteten in verschiedenen Städten nach und nach sogenannte Volkshäuser ein, Treffpunkte für Arbeiter und Emigranten. Daneben gab es bürgerschaftliche Initiativen, die bei Behördengängen, Arztbesuchen oder Wohnungssuche halfen. Erst in den 1970er-Jahren setzte sich in manchen Bundesländern die Erkenntnis durch, dass man Ausländer über Volkshochschulkurse fördern sollte.
Zu viel Knoblauch
Mit der Zeit versuchten viele Gastarbeiter, aus den Sammelunterkünften auszuziehen und über den Markt eine angemessene Unterkunft zu finden - vor allem, wenn sie eine Familie hatten oder planten. Doch häufig scheiterte das an den Vorurteilen der Deutschen. Ein Gastarbeiter erinnert sich: "Wenn man türkisch als Nationalität sagt, sind sie immer erschrocken und meinten, sie geben die Wohnung nicht an Türken." Ein anderer: "Sie sagen, die Türken kriegen so viel Besuch, die Türken kochen so viel Knoblauch, die Türken haben viele Kinder, machen viel Lärm."
Frühwarner
1972 waren in Stadt und Landkreis München offiziell rund 140.000 Gastarbeiter gemeldet. Doch sie blieben, wie in den anderen Städten auch, meist unter sich. "Ghettos in Deutschland. Eine Million Türken" titelte der "Spiegel" 1973 plakativ. Weniger populistisch warnte 1979 Heinz Kühn, der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, vor sozialen Spannungen sowie mangelhaften Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von Gastarbeiterkindern, sofern Politik und Gesellschaft nicht gegensteuerten.
Doch Kühns Appell verhallte, die Regierung Kohl setzte sogar Rückkehrprämien für türkische Arbeitnehmer aus. Deutschland sei kein Einwanderungsland, war immer noch die Parole, obwohl sie durch die Realität längst wiederlegt war. Überdies begannen in den 1980er-Jahren die Republikaner mit ausländerfeindlicher Hetze, die zum Teil auf fruchtbaren Boden stieß: Am 17. Dezember 1988 kamen im oberpfälzischen Schwandorf drei Türken in einem Wohnhaus ums Leben, das ein Neonazi in Brand gesteckt hatte. Rechtsextreme verübten am 29. Mai 1993 im nordrhein-westfälischen Solingen einen Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus mit Menschen türkischer Abstammung. Fünf von ihnen kamen ums Leben.
Migration zurück
Auch wenn man 2005 erstmals in der bundesdeutschen Geschichte die Zuwanderung umfassend gesetzlich regelte, wurden die Mängel, die Heinz Kühn 1979 angesprochen hatte, nie strukturell beseitigt. Die Warnungen des Ausländerbeauftragten erwiesen sich als Prophezeiung. Laut Statistiken sind heutzutage türkischstämmige Menschen der dritten Generation bei Bildungs- und Berufschancen im Durchschnitt in der Tat benachteiligt.
Andererseits gibt es längst genug gut ausgebildete Türken, die einwandfrei Deutsch sprechen, als Akademiker oder als Selbständige arbeiten und perfekt integriert sind - was aber nicht zu einem Miteinander der Ethnien führte: Türken und Deutsche leben weiterhin meist nebeneinader.
Ironie der Geschichte: Obwohl in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert, finden die gut Ausgebildeten heutzutage in der boomenden Türkei oft bessere Arbeitsmöglichkeiten. Dementsprechend wandern seit 2006 mehr Türken aus als ein. Sie erleben nun die umgekehrte Geschichte ihrer Großeltern.