Bayern 2 - Notizbuch


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Zur Geschichte der Sinti und Roma Der lange Weg von Indien nach Deutschland

Seit mindestens 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Ursprünglich kamen sie aus Indien, von wo sie mehrere Jahrhunderte lang Richtung Westen wanderten. Hier wurden sie schon vor Jahrhunderten systematisch diskriminiert und verfolgt.

Von: Ernst Eisenbichler

Stand: 14.03.2018 | Archiv

Roma-Großfamilie in der Tschechoslowakei 1936 | Bild: picture-alliance/dpa

Aus dem Mittelalter stammen verschiedene europäische Quellen über in Südeuropa auftauchende Volksgruppen, die unter anderem mit dem griechischen Wort "athinganoi" (Unberührbare) oder mit "Ägypter" bezeichnet werden. Aus dem ersten leitet sich der Sammelbegriff "Zigeuner" ab, aus dem zweiten das englische "Gypsy". Aus Ägypten kamen sie jedoch nicht. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass diese Volksgruppen ursprünglich in Nordwestindien lebten.

Roma, Sinti, Calé

In einem ungarischen Dorf 1928

Zwischen dem 7. und 13. Jahrhunderten wanderten sie in mehreren Schüben über Persien, Armenien und dem Byzantinischen Reich nach Europa. Aus dem 14. Jahrhundert existiert eine Quelle von einem italienischen Seefahrer, der in Griechenland "Romiti" begegnete.

In Rumänien leben heute mehrere Hunderttausend Roma.

Denn selbst nannten sich diese Volksgruppen nicht "Zigeuner" - das war schon bald nach den ersten Kontakten ein abwertender Begriff der Mehrheitsgesellschaft - sondern Roma. In drei großen Volksgruppen breiteten sich in Europa aus: Roma hauptsächlich in Osteuropa, Sinti vorwiegend in Mitteleuropa (als Manusch in Frankreich) und Calé in Spanien.

Seit 600 Jahren in Deutschland

Zeichnete ein Zerrbild von Roma: der bayerische Geschichtsschreiber Johannes Turmaier, genannt Aventin.

Die erste Erwähnung von Roma in Deutschland stammt von 1407 aus Hildesheim. In Regensburg tauchten 1424 "Cigäwnär" auf, wie ein lokale Quelle berichtet. Doch nicht innerhalb der Mauern, sie mussten ihre Zelte draußen aufschlagen - Roma hatten kein Aufenthaltsrecht. Sie wurden als Minderheit, die über eine eigene Sprache und Kultur verfügte und meist von dunklerer Hautfarbe war, ausgegrenzt und sozial deklassiert. Überdies wurden sie der Spionage für Türken beschuldigt. Seit ihrem Erscheinen in Europa hatten sie das Stigma der Kriminalität. Der bayerische Geschichtsschreiber Aventin (Johannes Turmair, 1477-1534) nannte sie "diebisches Volk", "Gemisch und Auswurf".

Als überregional Reisende erhielten sie eine frühe Form des Passes: Schutz- und Geleitbriefe, ausgestellt vom Papst oder von Territorialherren. Die meisten waren als Kaufleute, Handwerker oder Musiker unterwegs.

Von der Ächtung zur Zwangsassimilation

Ein Höhepunkt der Diskriminierung stellte der Reichstag zu Freiburg 1498 dar, auf dem die Roma reichsweit für "vogelfrei" erklärt, also geächtet, wurden. "Zigeunerpolitik" war fortan hauptsächlich von Abwehr und Vertreibung gekennzeichnet. Wer dennoch blieb, musste mit Zwangsarbeit und Markierung per Brandzeichen rechnen. Mit der Aufklärung ab etwa 1800 stiegen zwar die Aussichten auf eine Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, doch um den Preis der Zwangsassimilation.

Soziokulturelle Besonderheiten der Roma und Sinti

1

Eigene Sprache, dem dem indischen Sanskrit entstammt; Übernahmen aus regionalen Sprachen führten jedoch dazu, dass sich die drei großen Gruppen Roma, Sinti und Calé untereinander kaum verständigen können.

2

Sozialorganisation, in der verschiedene Ebenen verwandtschaftlicher Beziehungen von zentraler Bedeutung sind; bei den Roma: Mehrgenerationenfamilie (familia), Sippe (vitsa), sippenübergreifende Verbände (kumpania).

3

Interne politische und rechtliche Selbstverwaltung; jede Sippe verfügt über einen Sprecher als oberste Autorität und Rechtssprecher, schwere Verstöße gegen die Regeln der Gemeinschaft werden von einer eigenen Gerichtsbarkeit (Roma: kris) behandelt.

4

Soziales Kontrollsystem, bestehend aus einem Konzept von ritueller Reinheit/Unreinheit, das zum Teil Ähnlichkeiten mit hinduistischen Bräuchen aufweist und Ernährung, Hygiene, Kleidung sowie den Umgang mit Menschen betrifft.

5

Berufsstruktur, in der Selbständigkeit eine große Rolle spielt.

6

Historisches Selbstverständnis als reisende oder sesshafte Gruppe, wobei die Nomadisierenden inzwischen einen verschwindend geringen Anteil stellen.

7

In der Regel Annahme der Religion der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, verbunden mit Elementen anderen Ursprungs, z. B. Ahnenkult oder Glaube an Totengeister.

8

Frühe Sozialisation der Kinder, die rasch ins Alltagsleben integriert und als Erwachsene angesehen werden.

9

Starke Trennung der männlichen und weiblichen Lebenssphäre.

10

Bedeutung der Heirat als Herstellung von Allianzen zwischen Familien.

11

Mehrschichtige Identität: Angehörigkeit zu einer Roma-Gruppe und gleichzeitig zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft.

12

Abgrenzung unterschiedlicher Intensität gegenüber der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, aber auch gegenüber anderen Roma-Gruppen.

Münchner "Zigeunerzentrale" - Bayern Zentrum der Ausgrenzung

Sinti-Familie mit Wohnwagen

Nach der Reichsgründung von 1871 waren Sinti und Roma, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, formal gleichgestellt. Doch "Fahrende" begriff die kapitalistische Industriegesellschaft, die Sesshaftigkeit bevorzugte, zunehmend als Störfaktor.

Sinti und Roma ohne deutsche Staatsbürgerschaft galten als Ausländer, die Kanzler Otto von Bismarck zur "Zigeunerplage" erklärte. Wie in den Zeiten vor der Aufklärung versuchte man, sie in großem Stil auszuweisen. Dazu überwachte man sie verschärft. 1899 richtete die Königliche Polizeidirektion in München einen "Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in bezug auf Zigeuner" ein, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt in Bayern Roma und Sinti nur in einer Anzahl im niedrigen dreistelligen Bereich aufhielten. Lokale Polizeistationen hatten jegliche umherziehende Gruppe der "Zigeunerzentrale" zu melden. In der Münchner Behörde liefen aber auch Daten aus ganz Deutschland zusammen. Bis 1925 legte sie über 14.000 Personalakten über Sinti und Roma an.

"Zigeuner"-Bekämpfer Gustav Ritter von Kahr

Nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich für sie noch die Situation im Freistaat. Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr, Monarchist und Antisemit, setzte 1924 eine "Anordnung zur Bekämpfung der Zigeuner" in Kraft. Ab 1926 konnten die Behörden völlig willkürlich, aber juristisch gedeckt, Maßnahmen einleiten, denn der Landtag verabschiedete gegen die Stimmen von SPD und KPD das "Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen". Arbeitsscheu - ein Kampfbegriff, mit dem kurze Zeit später die Nationalsozialisten unter anderem die Verfolgung der Sinti und Roma begründeten.


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