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Erich Kästner Das Buch, das Kästner nie veröffentlichte

Obwohl seine Bücher 1933 verbrannt worden waren, obwohl er bald auf dem Index stand, ging der Dresdner Erfolgsautor und Journalist nicht ins Exil, glaubte, wie viele andere, dass das NS-Regime nur von kürzester Dauer sein könne. Kästners Kriegstagebuch war bislang nur in Auszügen erschienen. Nun liegen erstmals seine gesamten Einträge aus den Jahren 1941, 1943 und 1945 als Buch und Hörbuch vor. Einblicke in den Alltag eines verbotenen Bestsellerautors zwischen Frisörbesuchen und Flüchtlingselend, zwischen "Münchhausen" und Volksempfänger-Propaganda. Lesung mit Nico Holonics

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 07.11.2018 | Archiv

Buchcover "Das Blaue Buch" von Erich Kästner | Bild: Atrium Zürich; Montage: BR

"Der Entschluss ist gefasst. Ich werde ab heute wichtige Einzelheiten des Kriegsalltags aufzeichnen. Ich will es tun, damit ich sie nicht vergesse, und bevor sie, je nachdem wie dieser Krieg ausgehen wird, mit Absicht und auch absichtslos allgemein vergessen, verändert, gedeutet oder umgedeutet sein werden."

(Aus Erich Kästners Kriegstagebuch, erster Eintrag, 16. Januar 1941)

Bücherverbrennung in Berlin 1933

Er hütete dieses in blaues Leinen eingeschlagene Buch, nahm es in jeden Berliner Luftschutzkeller mit, stenografierte nur. Erich Kästners regimekritische Haltung ist offensichtlich in diesen Kriegsaufzeichnungen aus den Jahren 1941, 1943 und 1945. Dennoch gehörte er zu denen, die geblieben waren im faschistischen Deutschland, obwohl seine Werke 1933 von den Nazis verbrannt worden waren, obwohl er ein viel übersetzter, international erfolgreicher Schriftsteller war, der sich wahrscheinlich sein Exilland hätte aussuchen können. Sein Bleiben: eine damals wie heute nicht leicht nachvollziehbare Entscheidung.

"Bis Ende November 1943 stand Das Blaue Buch, aufs Sichtbarste verborgen, zwischen viertausend anderen Büchern im Regal. Dann steckte ich es, da die Luftangriffe auf Berlin bedenklicher wurden, zu dem Reservewaschbeutel, der Taschenlampe, dem Bankbuch und anderen Utensilien in die Aktenmappe, die ich kaum noch aus den Händen ließ."

(Erich Kästner)

In den zwölf Jahren der Diktatur hielt sich Kästner über Wasser, indem er Unterhaltungsromane, Boulevardstücke und das Drehbuch für den Ufa-Renommierfilm "Münchhausen" (1943) unter Pseudonym verfasste. Nach "Münchhausen" jedoch erhielt der gebürtige Dresdner Totalverbot, keine seiner Strategien funktionierte mehr, er lebte vom Ersparten und versuchte dennoch, seine Alltagsroutinen so gut wie möglich aufrechtzuerhalten - all das nun zu entdecken in seinen geheimen Tagebuchaufzeichnungen.

Das Blaue Buch - erstmals vollständig

"Heute schreibt Goebbels wieder im Beobachter. Wieder über den Mut. Denn das lasen wir ja schon neulich: Im Ernstfalle gibt es keine Feuerwehr, keine Polizei, keine Wasserleitungen, - sondern nur unseren Mut. Wollen wir dann die brennenden Häuser mit unserem Mut bespritzen? Ja, wenn wir löschen könnten wie Gulliver im Land der Zwerge!"

(Kästner in seinem geheimen Tagebuch, 7. August 1943)

Von 1941 bis Kriegsende schrieb Kästner auf, was sich an der Front und in Berlin ereignete, notierte Heeresberichte und Massenexekutionen ebenso wie Kneipenwitze über Goebbels und Hitler, die schon bald nur noch hinter vorgehaltener Hand gemacht wurden. Er dokumentierte seinen zunehmend von Stromsperren und Bombenangriffen geprägten Alltag bis zur Kapitulation im Mai 1945 und berichtete, was sich in den Monaten danach abspielte.

"Eine unwahrscheinliche Situation: Bergfrühling und Flüchtlinge, die auf dem Heuboden schlafen; Maikäferepidemie und Flugzeuggeschwader, die man aus den Wolken aufblinken sieht; in der Ferne donnern die Reihenwürfe; Blusentausch gegen Brotmarken, Sträuße pflücken, Brennesseln sammeln für Gemüse; Schnapsgelage und zigarettenlose Zeit; Sommerfrische und Untergang des Abendlandes!"

(Eintrag im Blauen Buch Erich Kästners, 19. April 1945)

Seine Aufzeichnungen waren jedoch bislang nie in Gänze der Öffentlichkeit zugänglich. Die vom Germanisten und Käster-Experten Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker herausgegebene, kommentierte und erstmals vollständige Ausgabe - wie damals mit blauem Leineneinband versehen - umfasst neben Kästners Kriegstagebuch seine gesammelten Notizen für einen Roman über das ›Dritte Reich‹, ein umfangreiches Vorwort sowie zahlreiche Zeitungsartikel, die Kästner im "Blauen Buch" aufbewahrt hatte. Ein einzigartiger Bericht aus dem Inneren des "Dritten Reichs" von einem nachdenklichen Erich Kästner, der sich merklich mit seinen persönlichen Sorgen zurückhält in seinen Notizen. Das "Blaue Buch": ein dokumentarisches Projekt.

Nach "Der Gang vor die Hunde" und "Der Herr aus Glas" ist dieses Publikation die dritte Kooperation zwischen den radioTexten mit dem Kästner-Experten Sven Hanuschek. Daraus ist nun das dritte Hörbuch entstanden, wofür Nico Holonics wieder Erich Kästner seine Stimme geliehen hat.

Der Herausgeber

Sven Hanuschek - der große Kästner-Entdecker

Sven Hanuschek, geb. 1964, ist Germanist und Publizist und gilt als international führender Kästner-Experte. Er lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Über Erich Kästner veröffentlichte Sven Hanuschek die Biografie Keiner blickt dir hinter das Gesicht (1999) und eine Monografie (2004); im Atrium Verlag gab er 2003 unter dem Titel Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Briefe Kästners heraus sowie 2013 Der Gang vor die Hunde und 2015 den Erzählungsband Der Herr aus Glas.

Der Kästner-Interpret

Nico Holonics, geboren 1983 in Leipzig, absolvierte sein Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin. Sein erstes Engagement zog ihn 2007 ans Münchner Volkstheater. 2010 wechselte Holonics an die Münchner Kammerspiele. Für seine darstellerischen Leistungen wurde er 2010 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Von 2012 bis 2017 war er Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt, seit der Spielzeit 2017/18 gehört er zum Berliner Ensemble. Holonics arbeitet regelmäßig in Fernseh- und Hörfunkproduktionen als Sprecher und ist Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin.

Lesung und Hörbuch

Das Kriegstagebuch Erich Kästners, erstmals als Hörbuch, gelesen von Nico Holonics

Das von Bayern2 produzierte Hörbuch (gekürzte Lesung auf vier CDs) mit Nico Holonics ist, wie auch das Buch, im Atrium Verlag erschienen.

Redaktion und Regie: Antonio Pellegrino


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