Bayern 2 - radioTexte


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Ewig junge Minne-Lyrik Von genialen Schandschnauzen, Bürschleins und der unerhörten Liebe

In "Unmögliche Liebe" sind sie alle versammelt, die Granden der Minnelyrik vor 800 Jahren: Oswald von Wolkenstein etwa oder "die genialste Schandschnauze" Walther von der Vogelweide, wie ihn Peter Rühmkorf einst nannte, und über 60 Granden der heutigen Poesie, darunter die Herausgeber Jan Wagner, dem nach dem Leipziger Buchpreis jetzt am 28. Oktober der Büchner-Preis überreicht wird, und der Lyriker und Mediävist Tristan Marquardt, Marcel Beyer etwa oder Oswald Egger, Joachim Sartorius, Durs Grünbein oder Nora Gomringer. "Unmögliche Liebe", ein ergötzlich Buch, ein funkelnd Schatz!

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 17.10.2017 | Archiv

Tristan Marquardt, Jan Wagner | Bild: Cornelia Zetzsche

"Man trifft sich, sagen wir, zufällig an einem fast schon hochsommerlichen Maitag in einem Münchner Biergarten, wird bei einer längeren Zugfahrt von den Schicksalsgöttinnen der Bahnreservierung nebeneinander platziert, sitzt am späten Abend nach einer gemeinsamen Lesung in Berlin in einem Café – und gerät aufs angenehmste ins Plaudern, begeistert sich, sagen wir, über Lyrik im Allgemeinen und die hohe Kunst der Liebeslyrik im Speziellen, etwa die hinreißenden mittelhochdeutschen Liebesgedichte des 12. und 13. Jahrhunderts." So begann die gemeinsame Arbeit der Dichter Thomas Marquardt und Jan Wagner an der Anthologie "Unmögliche Liebe", die jetzt auf über 300 Seiten erschienen ist.

Oswald von Wolkenstein - ein mittelalterlicher Rapper

Dichter und Komponist Oswald von Wolkenstein


frisch, frei, fro, frölich,
ju, jutz, jölich,
gail, gol, gölich, gogeleichen,
hurtig, tum, tümbrisch,
knauss, bumm, bümbrisch,
tentzsch, krumb, rümblisch, rogeleichen,
so ist mein hertz an allen smertz,
wenn ich an sich meins lieben buelen gleichen...
(Oswald von Wolkenstein)

frisch, froh, fröhlich,
frei, juhu gejauchzt,
juchei, geil, geil, gaga, ohnegleichen,
hurtig, taumelnd, tumb,
krass, wumm, krawumm,
kirre, krumm, rumpelig, überreich,
so ist mein herz befreit von schmerz,
wird mir vom liebsten jeder anblick weich...

(Übertragung von Durs Grünbein)

Vieles kann man in der zweisprachigen Anthologie der beiden Minne-Lyrik-Fans Tristan Marquardt und Jan Wagner entdecken. Hinreißende Gedichte sowohl im Original und in der Übertragung über das ewig junge Thema: der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, der Vergeblichkeit der Liebe; oder war Oswald von Wolkenstein, Ritter, Dichter, Komponist, ein im Diplomatendienst von Kaiser Sigismund I. stehender Politiker auch der Erfinder der Comic-Sprache? Ein Pop-Art Künstler, einer, der die digitale Internet-Sprache schon voraus ahnte? Mittelalterlicher Minnesang im Dialog mit der Poesie von heute! Zum Beispiel Jan Volker Röhnerts Übertragung eines Gedichts von Walther von der Vogelweide über den Minnesänger:

In der Art von Ich begehre alles, was ein Mann

Walther von der Vogelweide, "genialste Schandschnauze des Reiches"


Als Typ trägst du schon dicke auf –
Palavern ohne Sinn.
Taucht irgendwo ein Mädchen auf,
und du bist hin.
Was wär’ mit uns geworden
in einer Welt aus leeren Worten?
Um es mal anders auszudrücken:
Nur still entzückt von ihren Blicken
darfst du ein Feld weiterrücken.

'Versetz dich mal in meine Haut –
möcht’ unbehelligt durch die Straßen schlendern.
Ein Typ, der sich was traut,
soll erst mal sein Begehren ändern.
Und kriegt er nicht von mir genug,
überlass er mir den ersten Zug.
Geraubte Küsse sind wert-
los wie verkehrt
mit jemand, der zum Teufel fährt.'

(Übertragung von Jan Volker Röhnert)

Gipfeltreffen der Poesie aus über 800 Jahren

Jan Wagner, Büchner-Preisträger 2017

Es treffen aber in "radioTexte - Das offene Buch" nicht nur "Minnesänger" aus über 800 Jahren aufeinander, sondern Jan Wagner, der frisch gekürte Büchner-Preisträger, dem am 28. Oktober der wichtigste Literaturpreis des deutschen Sprachraums überreicht wird, liest aus seinem Werk "Selbstporträt mit Bienenschwarm", in dem er Regentonnen bedichtet, Champignons und Quitten, selbst dem Teebeutel ein poetisches Denkmal gesetzt hat:

Der Teebeutel

"nur in sackleinen
gehüllt. kleiner eremit
in seiner höhle.

nichts als ein faden
führt nach oben, wir geben
ihm fünf minuten"

(aus: "Selbstporträt mit Bienenschwarm")

"Jan Wagners Gedichte verbinden spielerische Sprachfreude und meisterhafte Formbeherrschung, musikalische Sinnlichkeit und intellektuelle Prägnanz. Entstanden im Dialog mit großen lyrischen Traditionen, sind sie doch ganz und gar gegenwärtig. Seine Gedichte erschließen eine Wirklichkeit, zu der Naturphänomene ebenso gehören wie Kunstwerke, Sujets der Lebens- wie der Weltgeschichte, erste Fragen und letzte Dinge. Aus neugierigen, sensiblen Erkundungen des Kleinen und Einzelnen, mit einem Gespür für untergründige Zusammenhänge und mit einer unerschöpflichen Phantasie lassen sie Augenblicke entstehen, in denen sich die Welt zeigt, als sähe man sie zum ersten Mal. Für diese poetische Sprachkunst, die unsere Wahrnehmung ebenso schärft wie unser Denken, verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis 2017 an Jan Wagner." So weit die Begründung der Büchner-Preis-Jury. Grund genug für eine Radio-Sendung.

Schmusespiel und Herzfeind

Erschienen bei Hanser

radioTexte - Das offene Buch sendet am 22. Oktober Ausschnitte aus der Gedichte-Anthologie "Unmögliche Liebe", gelesen von den beiden Herausgebern Tristan Marquardt und Jan Wagner, die über die Minne-Lyrik und ihre Begeisterung für die mittelalterliche Dichtung erzählen, aus einer Zeit, in der die Liebe noch Anbetung und Sehnsucht blieb, meist ohne Echo, ohne Erfüllung.
Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche.
radioTexte - Das offene Buch jeden Sonntag um 11 Uhr auf Bayern 2.


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