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Gabriele Tergit Memoiren der ersten Gerichtsreporterin

Tucholsky, Kästner, Kisch, Kerr, Tucholsky: Sie alle schrieben für das „Berliner Tageblatt“ zu Weimarer-Republik-Zeiten. Doch wer kennt heute noch Gabriele Tergit, die erste Gerichtsreporterin, deren Artikel hoch geschätzt waren? Als ihr Debütroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ bereits ein Bestseller und Tergit eine etablierte Autorin und Journalistin war, kamen die Nazis. Aus Tergits Memoiren liest Christiane Roßbach. Diese und die Lesungen aus Tergits Familienepos "Effingers" gibt's ab jetzt auch als Podcastreihe.

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 29.09.2021 | Archiv

Buchcover: Gabriele Tergit: "Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen", herausgegeben von Nicole Henneberg, erschienen bei Schöffling | Bild: Cover: Schöffling & Co; Montage: BR

Die Tochter eines jüdischen Kabelfabrikanten hieß eigentlich Elise Hirschmann, bevor sie sich einen Künstlernamen zulegte - Tergit, das Anagramm von "Gitter". Nach ihrer Heirat mit einem Architekten hieß sie Reifenberg, doch das war erst 1928, als sie bereits eine gut vernetzte, geschätzte Journalistin war. Letzteres war harte Arbeit und auch ein Kampf, nicht nur gegen Vorurteile der männlichen Kollegen, sondern auch gegen die eigenen Ängste und Ansprüche. 

Verlagshaus Mosse (Berliner Tageblatt) nach dem Spartakusaufstand, aufgenommen 1919.- Fotopostkarte

"Nach der Stabilisierung der Mark 1924 hatte mir Erich Vogeler, Feuilletonchef des Berliner Tageblatts, für den ich seit 1920 Feuilletons schrieb, den Posten einer Gerichtsreporterin angeboten… Er nannte mir einen Fall, Ort und Zeit der Verhandlung. Man konnte einem Menschen die Wege nicht liebevoller ebnen. Ich ging in dem Gerichtsgebäude die Treppe zum Zuhörerraum hinauf, aber ich konnte mich nicht entschließen, die Tür zum Gerichtszimmer zu öffnen. Nach einer Weile ging ich die Treppe wieder hinab. ‚Dumm und lebensunfähig’, nannte ich mich selber."

(Gabriele Tergit, Etwas Seltenes überhaupt) 

Nichtsdestotrotz schrieb die ehrgeizige junge Frau gegen ihre Ängste sowie die „allgemeine Verachtung“ an, die ihr zunächst von ihrer Zunft entgegengebracht wurden. Seit ihrem 19. Lebensjahr lieferte sie präzise recherchierte, sozialpsychologische Artikel an diverse Berliner Zeitungen (vom Börsen-Courier bis zur Weltbühne). Es waren nicht „nur" Gerichtsreportagen: Gabriele Tergit gelangen ebenso Feuilletons, Reiseberichte, Glossen oder Typenskizzen, die als „Berliner Existenzen“ im Tageblatt und im Prager Tageblatt gedruckt wurden. 

"Unsichtbar ein Hakenkreuz"

Adolf Hitler, 1923

Ab 1924 war Gabriele Tergit festangestellte Reporterin des "Berliner Tageblatts". Ihre Einblicke in die gerichtlichen Prozesse zu Zeiten der Weimarer Republik sollten mehr als übliche Berichte sein, sollten als Sozialporträts Ungerechtigkeiten und Untiefen der Gesellschaft freilegen. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie auch an mehreren politischen Prozessen teilnahm, darunter einem Verfahren gegen die Fememörder der Schwarzen Reichswehr im Jahre 1927. Das Verfahren charakterisierte sie in der "Weltbühne" unter anderem mit dem Satz: "Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch". 1929 berichtete Gabriele Tergit über einen Prozess gegen Hitler und Goebbels, es ging dabei um ein Pressevergehen. Sie saß nur drei bis vier Meter von ihnen entfernt. In ihren Erinnerungen hält sie fest, was sie noch vierzig Jahre nach diesem Prozess quälte.

"Wenn ich einen Revolver besessen hätte und ich hätte sie erschossen, hätte ich fünzig Millionen vor einem frühzeitigen Tod gerettet und ich wäre Judith II. geworden. Aber wer hätte das gewusst?"

(Gabriele Tergit, Etwas Seltenes überhaupt)

"Etwas Seltenes überhaupt"

So lobte der Journalist Rudolf Olden die Autorin und Journalistin, die mit ihrem Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm berühmt wurde. Zweifelsfrei gehört sie zu den bemerkenswertesten und mutigsten Frauen des 20. Jahrhunderts. Als erste weibliche Gerichtsreporterin der Weimarer Republik machte sie anhand scheinbar unbedeutender Fälle auf die großen Problematiken ihrer Epoche aufmerksam. Aus der Position einer sozialkritischen Beobachterin heraus beschrieb sie die Gewalt und den zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten. Diese setzten Gabriele Tergit ganz oben auf die Liste politischer Gegner, was sie schließlich, nachdem sie in der Nacht ihres 39. Geburtstags von einem SA-Trupp bedroht wurde, zur Flucht aus Deutschland zwang.

"Effingers" - von den Buddenbrooks inspiriert

Ab 1933 lebte sie im Exil, ging zuerst nach Prag, dann nach Palästina, und letztlich, weil sie sich in Palästina unwohl fühlte, 1938 nach London, wo sie auch bis zu ihrem Lebensende 1982 blieb.

Ihr zweiter Roman Effingers, ein jüdischer Epochenroman, der 2019 wiederentdeckt und in den Feuilletons mit den "Buddenbrooks" verglichen wurde, erschien erstmals im Jahr 1951. Die vierteilige Lesung "Effingers" ist ab 14. Oktober in der klassischen Lesung am Donnerstag zu hören oder komplett als Podcast ab 11. Oktober. Eine Sammlung ihrer Gerichtsreportagen wurde erst posthum publiziert, ebenso ihre eindrücklichen Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt. Diese erschienen erstmals ein Jahr nach ihrem Tod. Dank Nicole Henneberg gibt es seit 2018 eine liebevoll edierte und mit einem Nachwort versehene Neuausgabe. Antonio Pellegrino hat mit der Herausgeberin gesprochen.

Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg,
erschienen im Schöffling Verlag

Lesung mit Christiane Roßbach sowie ein Gespräch mit Nicole Henneberg am 12. Oktober um 21 Uhr in den radioTexten auf Bayern2
Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino


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