radioTexte am Dienstag Gabriele Tergit: Etwas Seltenes überhaupt
Dienstag, 12.10.2021
21:05
bis 22:00 Uhr
- Als Podcast verfügbar
BAYERN 2
In ihren Erinnerungen beschreibt Gabriele Tergit alias Elise Hirschmann, die erste Gerichtsreporterin der Weimarer Republik, den Weimarer Alltag, die zunehmende Gewalt auf den Straßen und den wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten.
Es liest Christiane Roßbach.
Eigentlich hieß sie Elise Hirschmann. Ihr Vater war der Gründer der Deutschen Kabelwerke. Ihre Mutter stammte aus Bayern. In Berlin, wo sie am 4. März 1894 auf die Welt kam, besuchte sie die Soziale Frauenschule der Sozialreformerin Alice Salomon. Während ihrer Studienzeit in Heidelberg entschied sie sich für den Schriftstellernamen "Gabriele Tergit", das ein Anagramm des Wortes Gitter ist. Unter diesem Pseudonym veröffentliche sie ihre Artikel, Reiseberichte, Feuilletons und Glossen, die sie seit ihrem 19. Lebensjahr für verschiedene Berliner Zeitungen (vom Börsen-Courier bis zur Weltbühne) verfasste. Als festangestellte Reporterin des "Berliner Tageblattes" schrieb sie ab 1924 zahlreiche Reportagen über gesellschaftliche Themen und heikle Fälle, die auch politisch von großem Interesse waren. Sie berichtete über mehrere politische Prozesse, darunter über das Verfahren gegen die Fememörder der Schwarzen Reichswehr und 1929 über den Prozess, in dem Hitler und Goebbels wegen eines Pressevergehens angeklagt waren. Sie saß nur wenige Meter von den Angeklagten entfernt. In ihren Erinnerungen schrieb sie, was sie vierzig Jahre danach immer noch quälte: "Wenn ich einen Revolver besessen hätte und ich hätte sie erschossen, hätte ich fünfzig Millionen vor einem frühzeitigen Tod bewahrt. Aber wer hätte das gewusst?". Ihre kritische Haltung als erste Gerichtsreporterin der Weimarer Republik, ihre Schilderungen über die zunehmende Gewalt auf den Straßen und den unaufhaltsamen Einfluss der Nationalsozialisten waren vielen ein Dorn im Auge - vor allem den Nationalsozialisten. Diese setzten sie auf die Liste ihrer politischen Gegner. Nachdem sie in der Nacht ihres 39. Geburtstags von einem SA-Trupp bedroht wurde, entschied sie sich 1933 zur Flucht aus Deutschland. Sie ging nach Prag, dann nach Palästina und später nach London, wo sie bis zu ihrem Tod 1982 lebte. Nach ihrem ersten erfolgreichen Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" wurde 1951 ihr zweiter Roman "Effingers" veröffentlicht, der das Schicksal einer jüdischen Familie in Berlin schildert. Ab 14. Oktober liest Katja Bürkle in der "Klassischen Lesung am Donnerstag" vier Folgen aus diesem Jahrhundertroman. Ab 12. Oktober bringen die "radioTexte am Dienstag" Ausschnitte aus Tergits Erinnerungen "Etwas Seltenes überhaupt", gelesen von Christiane Roßmann sowie ein Gespräch mit der Herausgeberin Nicole Henneberg. Alle Sendungen und das Gespräch mit Nicole Henneberg gibt es auch als Podcast unter Bayern2/Lesungen und in der Audiothek der ARD.