Neil MacGregor "Leben mit den Göttern"
Der Bestsellerautor, Museumsdirektor und Intendant des Humboldtforums erzählt wieder einmal Weltgeschichte auf seine Art: Anhand ausgewählter Objekte - zum Beispiel ein 40.000 Jahre alter Löwenmann aus Elfenbein oder eine Madonna aus Guadeloupe - nimmt der berühmte Brite uns mit bis zu den Ursprüngen des Glaubens. Gespräch und Lesung in zwei Folgen
"Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben."
(Joan Didion)
Ein einendes Element der globalen Menschheit ist das Bedürfnis nach Geschichten. Geschichten, die unsere private Erinnerung, aber auch unser kollektives Gedächtnis ordnen, unserem Leben Form und Sinn verleihen. Ohne eine "Vorstellung, die eine Gesellschaft von sich selbst konstruiert", schrieb einmal der französische Soziologe Émile Durkheim, ohne solche übergreifenden Geschichten, könne es im Grunde gar keine Gesellschaft geben. Mit diesen Narrativen und den damit verbundenen Werten und Idealen, dazugehörigen Ritualen und Zeremonien, bilden sich gemeinschaftliche Glaubenssysteme heraus, werden Gesellschaften konstruiert. In letzter Zeit scheint die Bedeutung der Religionszugehörigkeit als Identitätsmerkmal zugenommen zu haben, der Glaube als Ausschlusskriterium missbraucht zu werden, konstatiert Neil MacGregor, Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin und ehemaliger Leiter des Londoner British Museum. In seinem neuen Buch "Leben mit den Göttern" unternimmt der Autor von "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten" und "Deutschland. Erinnerungen einer Nation" nun eine weitere spannende Reise rund um den Globus: zu den Spuren teilweise jahrtausendealter Glaubensgeschichten.
Wie wollen wir leben? Miteinander?
"Dieses Buch ist ausdrücklich keine Geschichte der Religion, es ist aber auch keine Streitschrift für den Glauben und noch weniger eine Verteidigung irgendeines bestimmten Glaubenssystems. Es befragt quer durch die Geschichte und rund um den Globus Gegenstände, Orte und menschliche Tätigkeiten, um zu verstehen, was gemeinsame religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben einer Gemeinschaft oder einer Nation bedeuten können, wie sie das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat prägen und wie sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wer wir sind. Denn mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Göttern leben wollen, entscheiden wir auch, wie wir miteinander leben."
(Neil MacGregor in: Leben mit den Göttern)
Auch in diesem Mammutwerk schafft es der 72-Jährige wieder einmal, anhand von Gegenständen erzählte Geschichte elegant mit aktuellen bzw. zukunftsweisenden Gesellschaftsfragen zu verzahnen. Von der frühen Verehrung von Feuer, Wasser und Sonne über Feste am Ganges und Pilgerfahrten im Orient bis zu den blutigen Kämpfen, die bis auf den heutigen Tag in ihrem Namen ausgetragen werden, erzählt er, wie der Glaube an die Götter das Leben der Menschen geprägt hat.
"Objekte erlauben uns, in allen Zeiten und in allen Gesellschaften in allen Teilen der Welt die Geschichte der Menschheit zu untersuchen und in einem gewissen Maße zu erzählen."
(Neil MacGregor)
Das Gemeinsame im Glauben
Was kann man anhand eines 40000 Jahre alten Löwenmenschen aus Mammut-Elfenbein über den Glauben erzählen? Wieso tanzt der Hindugott Shiva im Flammenkreis auf dem Forschungsgelände der europäischen Organisation für Kernforschung bei Genf?
Gerade indem MacGregor die zahllosen Geschichten und Mythen, die es überall auf der Welt gibt, nebeneinander stellt und miteinander vergleicht, wird überraschend klar, wieviel Gemeinsames in den ganz unterschiedlichen Erzählungen, Ritualen, Opfern, Sehnsüchten und Ängsten steckt, die unser Leben mit den Göttern seit Jahrtausenden hervorgebracht hat. Religion, so MacGregor, beschäftige sich vielfach mit den gleichen entscheidenden Fragen wie die Politik: Wie organisiert sich eine Gesellschaft, um zu überleben? Wer gehört überhaupt zu der Gemeinschaft, was beinhaltet das "Wir"?
"Ist die Menschheit heute in der Lage, ein pluralistisches globales Narrativ zu finden, ein Gefüge von Annahmen und Bestrebungen, das jeden in unserer hypervernetzten und immer fragileren Welt miteinbezieht und von jedem übernommen werden kann? Das ist eine Frage von Leben und Tod für die enorm steigende Zahl von Migranten in vielen Teilen der Welt."
(Neil MacGregor)
"Leben mit den Göttern" in zwei Folgen
von und mit Neil MacGregor
am 30. Oktober (um 21.03 Uhr) und 1. November (um 14.30 Uhr) in den radioTexten auf Bayern2
Das Buch, aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel übertragen, ist wie alle Bücher des britischen Autors, bei C.H. Beck erschienen. Die vollständige Lesung (u.a. mit Wolfram Koch) ist im Hörverlag erschienen.
Moderation: Antonio Pellegrino
Podcast verfügbar