Heinrich von Kleist: Ein kurzes Leben Das Thema
Kleist kam 1777 in Frankfurt an der Oder zur Welt und nahm sich 1811 in Wannsee bei Potsdam das Leben. Er wurde in eine traditionsbewusste preußische Offiziersfamilie geboren, verlor früh die Eltern und begann mit 15 Jahren eine Militärlaufbahn. Mit 20 Leutnant, verließ er zwei Jahre später das Militär, begann ein Studium der Philosophie, Mathematik und Staatswissenschaften, das er kurz darauf abbrach, sah sich als Staatsbeamter, Schriftsteller, Herausgeber, ging auf Reisen ins Ausland, wollte wieder zurück zu den Waffen - kurz: Unruhe hieß sein Dämon.
Das Leben als Kampf und die List des Zufalls
Die Stimme dieses Dämons kommt schon in seinen frühesten Äußerungen zum Ausdruck und zieht sich durch alle seine Dichtungen. Kleist stellt das Leben als Kampf dar; als Krieg zwischen den Geschlechtern und als Krieg der Worte - nicht selten mit mörderischem Ausgang. Die oft beschriebene "Gebrechlichkeit" des menschlichen Lebens zeigt sich nicht nur in der physischen Auseinandersetzung, sondern auch in der Doppeldeutigkeit, ja Doppelbödigkeit der Rede: Die Vitalität des Lebens ist nur im Kampf zu erfahren, in dem einer den andern mit der Absicht umschlingt, ihn zu Fall zu bringen. Ähnliches gilt für das Zwiegespräch: Einer will sich durchsetzen, den andern "niederwerfen". So scheint alles eine Frage der Kraft und der Taktik. Aber Kleist unterstellt dem Leben überhaupt ,respektive dem "Schicksal" eine List, die zwar ein unschuldiges Tier oder eine mechanische Puppe, aber kein mit Bewusstsein begabter Mensch zu beherrschen vermag: die List des Zufalls. Was dem Einzelnen zufällt, kann ihn - der Dorfrichter Adam spielt mit dieser Doppelbedeutung - im wörtlichen Sinne zu Fall bringen. Selbst die kleinste Zufälligkeit wird dann, wie der Autor halb scherzhaft über die Gründe der Französischen Revolution mutmaßt, zur Ursache für ein großes Ereignis.
Zufallstheroie und Sündenfall
In "Über das Marionettentheater" verbindet Kleist die Zufallstheorie mit dem "Sündenfall" des ausgeprägten Selbstbewusstseins. Je bewusster der Mensch sich seiner Existenz ist, desto stärker neigt er dazu, den Augenblick der Tat zu versäumen, um gleichsam über die eigene Reflektiertheit zu stolpern. Wie Hölderlin glaubt Kleist daher, einen Abgrund zwischen Denken und Tun zu erkennen, schließt aber, weitergehend als jener, alle zwischenmenschlichen Beziehungen in diesen beunruhigenden Verdacht ein. In dem Maße, in dem der Einzelne sich in sich selber versenkt, steigt die Gefahr, Selbst und Anderes zu verkennen. Solche Selbstversunkenheit ist indessen nicht allein auf ein übersteigertes Gedankenspiel zurückzuführen. Vielmehr kann es - umgekehrt: nämlich wie "Schicksal" bzw. Zufall von außen kommend - auch in Gestalt jenes Aus-sich-heraus-Tretens, jener Ekstase hereinbrechen, in der die bis zur Triebhaftigkeit gesteigerte Leidenschaft über jede Vernunft, jede Verhaltenheit siegt. Dann erwacht im Menschen - eine von Kleist häufig benutzte Analogie - der "Bluthund".
Das Gleichgewicht von Trieb und Norm, Sinnlichkeit und moralischer Vernunft
Wir erkennen hier das alte, auch von den Aufklärern lebhaft erörterte Problem wieder, auf welche Weise Trieb und Norm, Sinnlichkeit und moralische Vernunft in ein Gleichgewicht zu bringen sind. Nur scheint es oft, als habe Kleist das Vertrauen in den Erziehungsoptimismus der Vernunft verloren, da in seinen Texten nicht selten - siehe u. a. "Das Erdbeben in Chili" und die Tragödie "Penthesilea" – die Rachelogik entfesselter Leidenschaften über den Zwang und die Versöhnung triumphiert. Entscheidend für den Verlauf dieser Geschichten ist zum einen das Innehalten im Kampf: die nur für kurze Zeit aufblitzende Befriedigungschance und dann das unvermittelte Umschlagen in den Schrecken der Vernichtung. Zum andern bestimmen Worte, und zwar Worte des Missverstands, der Leidenschaft, des Hasses, des Fanatismus in vielen Fällen die Wendepunkte im Geschehen. Weder ist auf die triebhemmende bzw. kontrollierende Kraft von Vernunft, Moral und Recht noch auf die besänftigende Macht der sprachlichen Verständigung Verlass. Kleist spielt die Extreme in paradoxen Situationen gegeneinander aus: Weder der, der zu viel über sich und seine Motive nachdenkt, noch derjenige, der sich vom Orkan seiner Triebe fortreißen lässt, ist imstande, zweckmäßig bzw. maßvoll zu handeln. Paradox an Kleists Geschichten ist, dass seine Figuren durchaus imstande sind, sowohl das eine wie das andere zu beherrschen und dennoch - im Extremzustand der Selbst- und Fremdverkennung - die rechte Mitte verfehlen.
Willkür und Rache
Diese Zweideutigkeit im menschlichen Dasein färbt auch die Ordnungen ein, die es sich schafft, um dem Kampf aller gegen alle vorzubeugen. Denn diese Ordnungen beruhen, mit welchen Vernunftgründen sie auch immer gerechtfertigt werden, ihrerseits auf Gewalt: die Potestas der geistlichen oder weltlich-absolutistischen Obrigkeit. Es entspricht dem nicht zuletzt durch die physische Gewalt der Revolutionen beschleunigten Niedergang dieser alten Ordnungen, wenn Kleist noch einmal an einer weit zurückliegenden Geschichte, nämlich der des Michael Kohlhaas, den Konflikt zwischen Willkür und Rache einerseits und gesetztem Recht andererseits zur Darstellung bringt; oder wenn er im Drama um den Prinzen von Homburg spontane Subjektivität und Staatsräson zusammenprallen lässt.