Simplicius Simplicissimus Das Thema
Die Menschen des 17. Jahrhunderts erfuhren die Unbeständigkeit irdischen Glücks auf vielerlei Weise: Krieg, Pest, Religionswirren, Entdeckungen und Erfindungen auf vielerlei Gebieten und zunehmende Hinterfragung staatlicher Obrigkeit, die auf die kommende Aufklärung hinwiesen, sorgten für große Unsicherheiten in der Bevölkerung Europas. Der Lauf der Welt wurde oft als Irrgarten gesehen, in dessen Sackgassen sich der Mensch verlief. Einzig Gott war es möglich, quasi von oben herab die Lebenswege der Menschen zu beobachten und gelegentlich zu steuern.
"Carpe diem" und "vanitas"
Die Menschen hatten vielfach keine Chance, ihr Leben in Sicherheit zu verbringen. Sie wandten sich schicksalsergeben der auf das Jenseits vertröstenden Religion zu oder versuchten, dem Dasein möglichst viele Sinnenfreuden abzuringen. Andreas Gryphius (1616-1664), einer der bekanntesten deutschen Barockdichter, fasste diese Erfahrungen in unvergessliche Zeilen: "Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein" ("Es ist alles eitel") zeigt die Unbeständigkeit der Zeit und der menschlichen Werke. Alles menschliche Tun und Schaffen ist der Vergänglichkeit unterworfen, und es gibt nur einen Ausweg: sich der gütigen Allmacht Gottes anzuvertrauen. Diese christlich verstandene Lösung, um nicht zu sagen Erlösung aus dem irdischen Jammertal klingt auch in Grimmelshausens großem Roman Simplicissimus an. Hier wird der Titelheld zunächst von einem frommen Einsiedler erzogen, bis er schließlich nach einem labyrinthisch irren Lebenslauf selbst als gläubiger Eremit endet.
Der deutsche Barockroman
Zwar kann Literatur die Welt nicht wirklich ändern. Aber sie kann mögliche Lösungswege aufzeigen. Im 17. Jahrhundert boten sich innerhalb der Gesellschaft drei denkbare Fluchtwege an. Da ist zunächst die Flucht nach oben, in die Welt der gehobenen und höchsten Gesellschaftsschichten. Im höfisch-historischen Barockroman wird das private Liebesglück mit Haupt- und Staatsaktionen verknüpft und nach beinahe unendlichen Wirren zum glücklichen Ende geführt. Daniel Casper von Lohensteins "Großmütiger Feldherr Arminius" von 1689 gilt als Beispiel hierfür. Doch für die meisten Menschen, die nicht dem Adel angehörten, bot dieser Romantyp keine wirkliche Identifikationsmöglichkeit.
Der sogenannte Schäferroman stellte gewissermaßen die Flucht nach außen, aus der Alltagswelt heraus, vor. Darin verkleidete man sich in einfache Hirtenkluft und fühlte sich in eine südlich angenehme, moralfreie und damit sündenfreie Paradieseswelt versetzt. Mehrere dieser Texte führen "Arkadien" im Titel. Der deutsche Dichter und Poetologe Martin Opitz (1597-1639) schuf mit seiner "Schäfferey von der Nimfen Hercinie" 1630 ein Beispiel dieser Romangattung. Doch auch die Schäferei war von der Erfahrungswelt der meisten zeitgenössischen Leser sehr weit entfernt.
Der Schelmenroman
Dieses Manko besaß der Schelmen- oder Picaroroman nicht. Aus der Sicht eines Outcasts, der bereits außerhalb der bestehenden Gesellschaft stand, wurde eben dieser Welt ein Spiegel vorgehalten, in dem sie sich selbst, und damit all ihre Verfehlungen in aller Deutlichkeit erkennen musste. Dem Schelm oder Picaro konnte man dabei nicht ernsthaft böse sein. Es ist das Privileg eines Narren, respektlos vor die Großen dieser Welt hinzutreten und den Finger in die Wunden der Zeit zu legen. Genau diese Aufgabe erfüllte Grimmelshausens Simplicissimus in seiner Gänze wie auch die Titelfigur des Romans innerhalb der Romanwelt zu Beginn ihres öffentlichen Auftretens.
Der große Erfolg des Simplicissimus rührt sicher nicht zuletzt daher, dass sich viele seiner Leser mit dessen Hauptfigur identifizieren konnten. Vielen Menschen ging es wie ihr: umhergeworfen vom Schicksal, stets gefährdet in ihrer Existenz und dabei doch darauf bedacht, ihr Seelenheil nicht zu verspielen. Der Schelmenroman stellt gewissermaßen die Flucht nach unten dar, an den unteren Rand der Ständegesellschaft. Von hier aus konnte und kann man die Missstände besonders gut erkennen, weil man mitten in der Situation der Unterprivilegierten, der Benachteiligten, Verfolgten und Verlierer des Weltgeschehens ist.
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch
Der Titel des Romans ist zugleich sein Programm: Sein Protagonist ist der einfältigste und naivste Mensch, den man sich vorstellen kann. Nicht einmal seinen Namen kennt er. In seiner kindlichen Unschuld ist er, der mitten in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hineingeboren wird, so gefährdet wie nur irgendwer, aber gerade seine Unschuld bildet scheinbar auch seinen wunderbaren Schutzschild, der ihn früh vor der Vernichtung seiner Existenz bewahrt.
Von einem frommen Einsiedler, der ihn unter seine Fittiche nimmt, erhält er den Namen Simplicius, der Einfältige. Ausgestattet mit einem christlich-naiven Weltbild begibt er sich dann auf "aventiure", auf abenteuerliche Wege, die ihn auf wechselnde Kriegsschauplätze, in verschiedene Dienste, und zu immer wieder neuen und spannenden Weggefährten führt. Doch mit der Erfahrung, die er ansammelt, wächst auch seine Lebenstüchtigkeit, mit der er sich überall auf der Welt durchschlägt. Der Beiname "Teutsch" hat damals auch die Bedeutung von "aufrichtig", "offenherzig". Abgeleitet ist er von dem uralten Adjektiv theodisk, das "die Volkssprache sprechend" oder "zum Volk gehörig" bedeutete. Die Hauptfigur des Romans ist also das Urbild des einfachen, biederen Deutschen, der sich in kindlicher Gutgläubigkeit aufmacht, die feindliche Welt zu erfahren; erfahren im wörtlichen Sinne: durch Wanderschaft erleben.
Christoffel von Grimmelshausen
Grimmelshausen war Bürgermeister und damit Beamter im Dienst des Fürstbischofs von Strassburg in Renchen. Als solcher hätte er sich durch die Veröffentlichung eines sogenannten niederen Romans den Zorn seiner Vorgesetzten zugezogen. Also vertauschte er die Buchstaben seines Namens und machte daraus das Anagramm German Schleifheim von Sulsfort. Erst lange nach seinem Tod wurde dieses Rätsel aufgelöst. Seither wissen wir, wer der Autor des bedeutendsten barocken Romans deutscher Sprache ist.
Grimmelshausen wurde um 1622 im hessischen Gelnhausen als Sohn eines protestantischen Gastwirts und Bäckers geboren. Im Dreißigjährigen Krieg wurde er von Soldaten gefangen und in Kassel zum Kriegsdienst zwangsrekrutiert. Er kämpfte in verschiedenen Diensten in Westfalen, am Oberrhein und in Offenburg. Schließlich arbeitete er ab 1643 als Regimentsschreiber, wurde katholisch und heiratete 1649 in Offenburg Katharina Henninger. Seine weitere Karriere machte ihn zum Verwalter der Schauenburgschen Güter in Gaisbach im Renchtal, zum Burgvogt auf Schloss Ullenburg bei Gaisbach und von 1665 bis 1667 zum Gastwirt in Gaisbach. Ab 1667 lebte Grimmelshausen als bischöflich-strassburgischer Schultheiß im badischen Renchen, wo er am 17.8.1676 starb.
Mit dem umfangreichen Wissen, das sich Grimmelshausen in der Bibliothek auf Schloss Ullenburg angeeignet haben mag, begann er schließlich unter Pseudonym zu schreiben. Mit dem 1667 erschienenen Abentheuerlichen Simplicissimus Teutsch gelang ihm der literarische Durchbruch zum ersten deutschen Prosaroman von Weltgeltung.