Essen in den Religionen Essen als Glaubensbekenntnis
An Bestrebungen, die Widersprüchlichkeit und scheinbare Willkür der unterschiedlichen Speisegebote und Speisetabus zu rationalisieren und medizinisch, hygienisch, ökologisch, ökonomisch oder symbolisch zu begründen, hat es zu keiner Zeit gefehlt. Immer wieder versuchen Theologen, Kulturwissenschaftler, Anthropologen, Philosophen oder Soziologen und Sozialpsychologen, die ausufernde Vielfalt mit den Begriffen und Methoden ihrer Disziplinen zu bändigen.
Die Grenzen des methodischen Blicks
Kulturmaterialisten etwa begreifen Speisegesetze und Nahrungstabus als Folge einer historisch entfalteten Kosten-Nutzen-Rechnung, die Nahrungsmittel tabuisiert, weil ihre Produktion ökologisch und ökonomisch sinnlos ist. Die Vertreter eines symbolischen Verständnismodells beschreiben Nahrungsmittel als Repräsentanten einer Weltordnung, die vordringlich zwischen dem Heiligen und Profanen, dem Reinen und Unreinen unterscheidet. Der soziokulturelle Ansatz betont den identitätsstiftenden und abgrenzenden Charakter von Speisegebote. Darüber hinaus wurden Speisegesetze, zumal die jüdischen, wechselnd als eine Art göttliche Gesundheitsvorsorge oder moralisch-erzieherische Mission begriffen, die den Menschen lehrt, seine Gelüste und Wünsche zu meistern.
Teilwahrheiten aber kein Einheitsmodell
All diese Erklärungsmodelle haben sicher ihre Berechtigung und liefern wertvolle Teilerkenntnisse. Aber keine darf ausschließliche und universale Gültigkeit beanspruchen, keine geht bruchlos und widerspruchsfrei auf. Natürlich lassen sich rein rationale, medizinisch-hygienische Gründe dafür anführen, nichts Verdorbenes und schon gar kein Aas zu verzehren. Aber warum essen Juden und Muslime kein Schweinefleisch? Warum ist Kamelfleisch im Judentum verpönt, während es in muslimischen Ländern als Leckerbissen gilt? Wie lässt sich das jüdische Verbot der Vermischung von Milch- und Fleischprodukten vernünftig erklären?
Die Probe aufs Exempel
Die Gegensätze bleiben unversöhnt. Früher oder später kapituliert jede noch so ausgefeilte Theorie und jeder Systematisierungsversuch vor dem Einzelfall und der Besonderheit. Aber möglicherweise zeigt sich gerade darin das Wesentliche. Vielleicht ist der vermeintliche Systembruch das eigentliche System, vielleicht kommt es gerade darauf an, etwas völlig Irrationales und Willkürliches anzunehmen und zu befolgen.
Gehorsam und Bekenntnis
Speisegesetze und Speisetabus sind nicht rational auflösbar. Sie sind ein Akt der Unterwerfung, der Auslieferung und der Anerkennung einer göttlichen Vollmacht, die keine verstandesmäßige Bestätigung, keine wissenschaftliche Akkreditierung braucht. Sie erfahren ihre Rechtfertigung vollständig dadurch, dass Gott als Herr des Lebens und der Schöpfung seinen Willen kundtut und seinen Anspruch auf Gehorsam einfordert. Gerade in ihrer Willkürlichkeit und Unbegründbarkeit klären Nahrungstabus das grundlegende Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf: Gott will es, der Mensch tut es. Diese Haltung adelt die Speisegesetze zur täglichen Gehorsamsprobe und zum alltäglichen Glaubensbekenntnis.