Essen in den Religionen Neudeutung der Reinheitsgesetze
Die ersten Christen waren getaufte Juden, die sich den Speisegesetzen verpflichtet wussten. Mit der Ausbreitung des Christentums verliert das jüdische Fundament seine Selbstverständlichkeit. Bereits die von Paulus gegründeten Gemeinden legen die traditionellen Gebote weniger streng aus als jene in Palästina. Vollends brisant wird der Streit um die Verbindlichkeit jüdischer Traditionen jedoch erst durch Neugetaufte, die das mosaische Gesetz weder kennen noch achten. Die dadurch aufbrechenden Konflikte wiegen schwer: Wie soll man mit diesen "Heidenchristen" verfahren? Müssen auch sie Juden werden, ist auch für sie Beschneidung, die Einhaltung der Sabbatruhe und vor allem die Befolgung der Speisegebote obligatorisch?
Paulus wirbt für Toleranz
Der "Heidenapostel" Paulus erkennt die Sprengkraft der Frage. Statt einen Richtungskampf auszufechten, plädiert er für Toleranz auf beiden Seiten: "Wer Fleisch isst, verachte den nicht, der es nicht isst; wer kein Fleisch isst, richte den nicht, der es isst." Dabei kann er sich auf Jesus stützen, der die Speisegesetze zwar nicht aufgehoben, aber in einer Replik auf pharisäische Vorwürfe deutlich relativiert hatte: "Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein." Im Rückgriff auf dieses Wort Christi lehrt Paulus nun, dass an sich nichts unrein ist. "Unrein ist es nur für den, der es als unrein betrachtet. Wenn wegen einer Speise, die du isst, dein Bruder verwirrt und betrübt wird, dann handelst du nicht mehr nach dem Gebot der Liebe. Richte durch deine Speise nicht den zugrunde, für den Christus gestorben ist".
Die Ethisierung der Speisegesetze
Im Zug der fortschreitenden Lösung des Christentums vom Judentum setzt sich die paulinische Auffassung vollends durch. Die Speisegesetze verlieren immer mehr an Bedeutung, die Begriffe "rein und unrein werden entmaterialisiert und gänzlich ethisiert. Die Qualität der Reinheit wird von ihrer Stofflichkeit abgetrennt. Was nun zählt, ist die Geisteshaltung, die innere Einstellung des Gläubigen, nicht die Observanz eines auf körperlich-dinglicher Reinheit basierenden Regelwerks. So markiert die Aufhebung der jüdischen Speisegebote das Ende eines langen Ausdifferenzierungsprozesses, in dem das Christentum schließlich zu einer eigenen religiösen Identität findet.