Das Labyrinth Heilspfad und Erlösungsweg
Die Christianisierung der griechisch-römischen Welt geht mit der Überformung und Neudeutung älterer, ehedem heidnischer Bildformeln und Symbole einher. Auch das Labyrinth erfährt im Zug dieser transformierenden Aneignung eine spezifisch christliche Auslegung. Aufgrund seiner Strukturmerkmale taugt es hervorragend als Modell einer sündigen, todverstrickten und heilsbedürftigen Welt.
Zum Erfolg des Labyrinths als Erlösungsfigur trägt vor allem die geschmeidige, völlig plausible Übersetzung der Theseus-Sage und ihres Personals in die christliche Gedankenwelt bei: Auf ihrem Weg durch das irdische Dasein ist die Seele unentwegt vielen Bedrohungen ausgesetzt. Sie kann sogar ganz verloren gehen. Sichere Orientierung auf diesem gefahrvollen Weg bieten alleine der Glaube, Christus und die Fürsprache der Heiligen. Mit Hilfe dieses Ariadnefadens findet der Mensch das Ziel seiner irdischen Wanderung. Im Zentrum des Pfads, in seiner unbewegten Mitte thront Christus. Wie Theseus hat er sein Leben freiwillig geopfert, um die Menschheit vom Bösen zu erretten. Und wie Theseus seine Gefährten, führt er die Brüder und Schwestern zuletzt aus der Todesfalle ins Leben zurück.
Glaubensmeditation und Heilsversprechen
Das zwölfte Jahrhundert ist die Blütezeit der großen gotischen Kathedralen und der Fußbodenlabyrinthe. Die in den Boden eingelassenen oder eingelegten Formen ermöglichen den körperlichen oder kontemplativen Nachvollzug zentraler Glaubenswahrheiten. Die sinn- und augenfällige Botschaft der Wegmetapher ist unmissverständlich: Es gibt nur einen Pfad zum Heil und wer ihn beschreitet, darf sich der Erlösung von der Erbsünde gewiss sein. Ob die Fußbodenlabyrinthe, wie immer wieder behauptet, auch als Ersatz für eine Pilgerreise nach Jerusalem angeboten und genutzt wurden, ist eine nicht durch zeitgenössische Quellen belegbare Spekulation.