Der Weg zur Mitte
Ethik und Philosophie | RS, Gy |
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Der ganze Kosmos oder das Leben des Einzelnen? Der Weg des Herzens oder die Windungen des Gehirns? Das Labyrinth lässt viele Deutungen zu. Immer aber steht es für Orientierung und Selbsterkenntnis.
Kaum ein Symbol berührt uns tiefer: Das bewusste Durchschreiten des Labyrinths ist eine existenzielle Zeichenhandlung, ein körperlich oder kontemplativ vollzogenes Lehrstück über wesentliche Aspekte des Menschseins. Als archetypischer Lern- und Erkenntnisraum verdichtet es die Schwellen- und Übergangssituationen der menschlichen Existenz: Abschied und Ankommen, Aufbruch und Umkehr, Loslassen und Neubeginnen, Tod und Wiedergeburt.
Das Labyrinth als Orientierungsgarant
In diesem Ur-Labyrinth, das erstmals im dritten Jahrtausend vor Christus greifbar wird, gibt es kein Verirren. Der Weg ist vorbestimmt und alternativlos. Er führt, wie verschlungen auch immer, direkt ins Herz der Welt. Solange man dem Weg vertraut, auch wenn er mühsam ist, selbst wenn die Mitte zeitweilig außer Sicht gerät und unerreichbar scheint, ist das Ziel nicht zu verfehlen.
Helden und Ungeheuer betreten die Szene
Mit dem Irrgarten späterer Zeiten hat das archaische Orientierungs- und Lebenssymbol nichts zu tun. Die Vorstellung eines bedrohlichen Ganggewirrs, lauernder Gefahren und tödlichen, rettungslosen Irregehens rückt erst um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus neben die ursprüngliche Idee.
Die Theseus-Sage setzt neue Akzente: Jetzt ist die Mitte des Labyrinths der Aufenthaltsort eines menschenfressenden Ungeheuers. Und das Abenteuer des verwinkelten Verlieses zu bestehen, ist das erforderlich, was die Griechen "techne" nennen: Kunst und Wissenschaft, Kniffe und Schliche sind gefragt.