Das Labyrinth Initiation, Tod, Unterwelt und Wiedegeburt
Funktion und Bedeutung des kretischen Labyrinth-Tanzes lassen sich nur spekulativ erschließen. Der Religionswissenschaftler Karl Kerenyi und der Labyrinthforscher Hermann Kern haben ebenso sachkundige wie plausible Deutungen vorgelegt. Beide betrachten den "Labyrinthos" als Bewegungsformel, als Ausdruck einer Initiation, also eines Übergangs-, Schwellen- und Reifungsrituals.
Neuanfang aus der Mitte des Daseins
Der im Labyrinthos symbolisierte Pfad lässt sich als existenzieller Weg deuten, der von einer unmündigen, unwissenden Existenzebene auf eine mündige, wissende Daseinsebene führt. Eine denkbare Initiation wäre etwa der in allen Kulturen betonte Übergang vom Knaben zum Mann und vom Mädchen zur Frau. Diese elementaren, existenziellen Verwandlungen erfordern den Abschied von einer alten, überlebten Existenzform. Der Übergang selbst erfolgt im Zentrum. Hier findet eine radikale Lösung von der Vergangenheit statt. Die bisherige Existenz erlischt und wird abgestreift. Dann folgt die Umkehr als Neubeginn. Wer das Zentrum des Wandels durchschritten hat, macht sich als Neugeborener auf den Rückweg und kehrt in einer neuen Rolle, beispielsweise als erwachsener Krieger oder heiratsfähige Frau, in die Gemeinschaft zurück.
Vertraue dem Weg, er ist das Ziel!
Der Weg des Labyrinths ist keine Frage der individuellen Wahl. Alles ist vorbestimmt. Der Rahmen des Labyrinthos ist fest gezogen, die Strecke klar abgesteckt, die Umkehrpunkte und das Zentrum sind fixiert. Wer diesen Weg betritt, unterwirft sich einer existenziellen, kosmischen Gesetzmäßigkeit. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, den Gang in die Mitte zu wagen und dem Weg auch dann zu vertrauen, wenn das Ziel außer Sicht gerät und unerreichbar scheint. Die Botschaft des Labyrinths ist daher eindeutig. Wer sich aufmacht, zuversichtlich bleibt und ausdauert, gelangt trotz mehrerer Umkehrpunkte und Windungen zum Ziel.