Anfang vom Ende der Demokratie
Geschichte | MS, RS, Gy |
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Am 8./9. November 1923 ruft Hitler zum "Marsch auf Berlin". Von München aus will er die Weimarer Demokratie beseitigen, doch der Umsturzversuch endet an der Feldherrnhalle im Gewehrfeuer der Polizei. Dem Prestige des "Führers" schadet die Niederlage nicht.
Hitlers Wut auf die Weimarer Republik
Im Herbst 1918 neigt sich der Erste Weltkrieg dem Ende entgegen. Nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive an der Westfront und dem Aufmarsch amerikanischer Truppen in Frankreich ist mit einem militärischen Zusammenbruch Deutschlands zu rechnen. Im September fordert die Oberste Heeresleitung einen Waffenstillstand. Angesichts der drohenden Niederlage verschärfen sich die politisch-sozialen Spannungen im Kaiserreich, eine Aufstandsbewegung greift - beginnend mit der Kieler Matrosenrevolte - um sich. Es folgen die Novemberrevolution, der Staatsumsturz und die Gründung der Republik.
Während der Militär- und Polizeiapparat kollabiert, liegt der Gefreite Adolf Hitler, ein im bayerischen Heer dienender Österreicher, im Lazarett. Er ist schockiert und glaubt wie viele andere Frontsoldaten daran, dass die Heimat einen "Dolchstoß" in den Rücken der kämpfenden Truppe führt. Für die Niederlage macht Hitler die "Novemberverbrecher" verantwortlich, die Weimarer Demokratie ist ihm verhasst.
München - eine tief verunsicherte Stadt
Krieg und Revolution hinterlassen auch in München Spuren. In der Nacht vom 7./8. November 1918 kommt es zu Demonstrationen von Arbeitern und Soldaten, der bayerische König muss abdanken. Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD) wird im Februar 1919 ermordet. Eine Räterepublik nach russisch-ungarischem Vorbild entsteht, in der wechselweise Anarchisten, radikale Unabhängige Sozialdemokraten und Kommunisten das Sagen haben. Im Mai werfen Truppen aus Württemberg und Preußen zusammen mit bayerischen Freikorps die Räterepublik blutig nieder. Nach dem "roten" erlebt München nun den "weißen Terror". Die Weimarer Verfassung tritt im August 1919 auch in Bayern in Kraft, das Land verliert etliche Sonderrechte, die es noch im Kaiserreich genoss. Der SPD-Politiker Johannes Hoffmann bildet eine Regierung.
Adolf Hitler lässt sich in der bayerischen Hauptstadt nieder und arbeitet im Auftrag der Reichswehr als V-Mann. Er späht politische Parteien aus und lernt dabei die Deutsche Arbeiterpartei kennen. Im September 1919 wird er Mitglied, im Juni 1921 Vorsitzender der nationalistisch-antisemitischen Gruppierung, die sich nun Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nennt.
Schlag gegen die Demokratie - der Kapp-Lüttwitz-Putsch
Am 13. März 1920 versuchen Rechtsextremisten um den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp und den Reichswehrgeneral Walter von Lüttwitz die Reichsregierung zu stürzen. Die Aufrührer besetzen das Berliner Regierungsviertel. Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) flieht nach Stuttgart. Schließlich scheitert der Putsch an einem Generalstreik.
In Bayern sind Kapps Spießgesellen dagegen erfolgreich. Ernst Pöhner, Münchens Polizeipräsident, Gustav von Kahr, der Regierungspräsident von Oberbayern sowie der General Arnold von Möhl zwingen Ministerpräsident Johannes Hoffman zum Rücktritt. Kahr, ein Monarchist und ausgesprochener Föderalist, wird Hoffmanns Nachfolger. Unter dem neuen Ministerpräsidenten, der eng mit rechten Einwohnerwehren zusammenarbeitet, kehrt Bayern zum Obrigkeitsstaat zurück. Hier tummeln sich neben dem zunehmend populärer werdenden Agitator Hitler bald einflussreiche Gegner der Weimarer Demokratie. Dazu zählen der Freikorpsführer Hermann Ehrhardt, Gründer des Geheimbundes Organisation Consul, und General Erich Ludendorff, der ab 1916 maßgeblich die deutsche Kriegsführung beeinflusste. Kahrs reaktionäre "Ordnungszelle" Bayern entwickelt sich zur Keimzelle des Dritten Reiches.
Der "Ruhrkampf" erschüttert Deutschland
Im Januar 1923 marschieren französische und belgische Truppen im Ruhrgebiet ein, weil Deutschland mit der Lieferung von Reparationen im Rückstand ist. Der parteilose Reichskanzler Wilhelm Cuno antwortet mit einer Politik des passiven Widerstands. In der Folge verschärft sich die Wirtschaftskrise. Die Inflation beschleunigt sich, der Geldverfall ist bald nicht mehr zu stoppen. Bis November steigt der Preis für ein Pfund Brot auf 260 Milliarden Mark.
In den nächsten Monaten herrschen in ganz Deutschland chaotische Verhältnisse. Es kommt zu Streiks und Massendemonstrationen, im Sommer erschüttern Hungerunruhen das Land. Reichskanzler Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei) beendet im September den Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebiets und beginnt mit den Planungen für eine Währungsreform. Doch Deutschland kommt nicht zur Ruhe. Kommunisten liefern sich Kämpfe mit der Polizei, in Thüringen formiert sich eine linke Regierung. Rechtsradikale fordern währenddessen, die "Ruhrverräter” aus Berlin zu vertreiben.
Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) verhängt zur Abwehr links- und rechtsradikaler Bestrebungen den militärischen Ausnahmezustand, Reichswehreinheiten marschieren in Sachsen und Thüringen ein. Auch in Bayern proklamiert die Regierung den Staatsnotstand. Gustav Ritter von Kahr, der im Zeitraum 1920/21 Ministerpräsident war, wird zum Generalstaatskommissar und Inhaber der Exekutivgewalt bestellt.
In der "Ordnungszelle" Bayern rumort es
Generalstaatskommissar Kahr bildet mit dem Reichswehrkommandeur General Otto von Lossow und Oberst von Hans von Seißer, dem Chef der Staatspolizei, ein Triumvirat. Das Trio liebäugelt zwar mit der Trennung Bayerns vom Reich und der Wiedereinführung der Monarchie, weicht aber vor einer Auseinandersetzung mit Berlin zurück. Zur Zusammenarbeit mit rechten Wehrorganisationen wie dem Kampfbund ist Kahr aber bereit. Hier ist auch Adolf Hitler aktiv, als militärischer Kopf des Kampfbundes gilt der von vielen Deutschen als Kriegsheld verehrte General Erich Ludendorff. Die NSDAP ist inzwischen - zumindest in München - zu einer Massenbewegung geworden. Bereits 1922 strömten mehr als 50.000 Menschen zu einer Nazi-Kundgebung gegen die Kriegsreparationen.
Hitler wettert gegen die Regierung in Berlin, die Beendigung des Ruhrkampfes nennt er eine Schande. Er glaubt, die Weimarer Republik befände sich am Rande des Zusammenbruchs und sei reif für ihren Sturz. Mit Ludendorff schmiedet er Staatsstreichpläne, von München aus will er die "nationale Revolution" auslösen. Der "Marsch auf Berlin" nach dem Vorbild der italienischen Faschisten, die im Oktober 1922 einen "Marsch auf Rom" unternahmen, ist nur eine vage Vorstellung, einen ausgearbeiteten Plan gibt es nicht. Hitler wird im Herbst 1923 mehr und mehr zum Getriebenen seiner eigenen Polemik. Schon seit Monaten übt er sich in der Sprache der Gewalt und präsentiert sich als Macher. Nun muss er zeigen, dass er nicht nur "trommeln", sondern auch "führen" kann. Zudem sieht sich Hitler im rechten Spektrum einer starken Konkurrenz ausgesetzt und die Gefahr ist groß, dass sich die Massen wieder von der NSDAP abwenden.
Der "Führer" greift nach der Macht - und scheitert
Hitler ist alarmiert, als er von einer Versammlung am 8. November im Münchner Bürgerbräukeller erfährt. Generalstaatskommissar von Kahr, so heißt es, werde vor Honoratioren der vaterländischen Gruppierungen die Ziele seiner Amtszeit erläutern. Sollte es um die Proklamation der Unabhängigkeit Bayerns gehen, genügt Hitler das nicht. Er will die Regierung in Berlin stürzen und die verhasste "November-Republik" beseitigen. Der "Führer" beschließt, das Treffen im Bürgerbräukeller zu nutzen, um einen eigenen Coup zu wagen. Die bayerischen Partikularisten will er zu einem weit reichenden Schritt zwingen.
Am Abend des 8. November stürmt Hitler mit Bewaffneten seiner Sturmabteilungen (SA) in den Saal, lässt ein Maschinengewehr aufbauen und erklärt die bayerischen Regierung sowie die Reichsregierung für abgesetzt. In einem Nebenzimmer sagt das Triumvirat Kahr-Lossow-Seißer Hitler und Ludendorff Unterstützung zu. Eine provisorische Regierung wird gebildet, doch kaum sind Kahr, Lossow und Seißer wieder auf freiem Fuß, lassen sie den Aufstand gewaltsam niederschlagen.
Auf Befehl Ludendorffs wird dennoch marschiert. Am 9. November, gegen Mittag, treffen die Putschisten vor der Feldherrnhalle auf eine Einheit der Landespolizei. Schüsse fallen, 15 Putschisten, vier Polizisten und ein unbeteiligter Passant sterben. Hitler flieht, wird bald verhaftet, die NSDAP wird verboten.
"Ehrenhafte Motive" - ein Prozess wird zur Farce
Vor dem Volksgericht München findet im Februar/März 1924 der Hochverratsprozess gegen Hitler, Ludendorff und acht weitere Teilnehmer des Putsches statt. Den Vorsitz führt Landgerichtsdirektor Georg Neithardt, ein Sympathisant der rechten Szene. Die Anklage wird vertreten von den Staatsanwälten Ludwig Stenglein und Hans Ehard. Schnell wird deutlich: Richter Neithardt begegnet den Angeklagten mit Wohlwollen. Sie werden nicht, wie vier Jahre zuvor Aktivisten der Räterepublik in Sträflingskleidung vorgeführt, sondern tragen Anzüge. Der Richter spricht die Angeklagten mit "Herr", den populären Kriegshelden Ludendorff mit "Exzellenz" an. Hitler hält Propagandareden und attackiert die Demokratie. Er betont, es könne gar keinen Hochverrat geben, wenn sich eine Tat gegen den "Landesverrat" von 1918 richtet. Richter Neithardt lässt es geschehen, dass Hitler die Reichsregierung in Berlin als "Novemberverbrecher" beschimpft und billigt den Putschisten "ehrenhafte Motive" zu.
Hitler verwandelt die Niederlage in einen Triumph
Vor Gericht bekommt Hitler die Chance, sich als "Führer" zu inszenieren, der nur das Beste für Deutschland wollte. "Mögen sie uns tausendmal schuldig sprechen", ruft er, "die Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des Gerichts zerreißen, denn sie spricht uns frei".
Am 1. April 1924 wird das Urteil verkündet: Freispruch für Ludendorff, Hitler erhält wegen Hochverrats fünf Jahre Festungshaft. Die Tötung der Polizisten vor der Feldherrnhalle wird im Urteil ebenso wenig erwähnt wie die Misshandlung jüdischer Bürger, die Plünderungen und Geiselnahmen in der Nacht vom 8./9. November 1923. Dagegen wird die Entlassung nach einem halben Jahr bei guter Führung in Aussicht gestellt. Dies ist klar rechtwidrig, denn Hitler stand zum Zeitpunkt der Tat wegen einer Verurteilung im Jahr 1922 wegen Landfriedensbruchs noch unter Bewährung - eine weitere Bewährung darf ihm Richter Neithardt eigentlich nicht zugestehen. Der Hitler-Prozess ist ein Skandal. Die Münchner Justiz, die kaum etwas anderes will als Hitler, macht die spätere "Machtergreifung" möglich.
Als Hitler den Gerichtssaal verlässt, werfen seine Anhänger Blumen. Hitler muss nur neun Monate in Landsberg einsitzen. Die Zeit nutzt er, um seine Bekenntnis- und Programmschrift "Mein Kampf" zu diktieren. Bereits im Februar 1925 wird die NSDAP wiedergegründet. Adolf Hitler lernt aus den Ereignissen im Zeitraum 1923/24. Er weiß nun um die Risiken eines Aufstands und versucht auf legalem Weg an die Macht zu gelangen. Auch wird ihm klar, dass er sich fortan mit den konservativen Machteliten arrangieren muss.