Humanismus in Bayern Renaissance und Humanismus
Gegen Ende des 14. Jahrhunderts setzt in Oberitalien eine Entwicklung ein, die im Lauf eines Jahrhunderts alle Bereiche der Kultur, die Künste, die Literatur, die Architektur, das Denken, die Wissenschaften und insbesondere das Bild des Menschen erfasst und umwälzt. Impulsgeber dieser Bewegung ist die Wiederentdeckung der klassischen Antike als Bildungs- und Lebensmuster. Bislang unbekannte oder verschollene Manuskripte antiker Autoren inspirieren eine Generation junger Intellektueller und Künstler, die sich allmählich von den kulturprägenden Formen und Inhalten des Mittelalters abwenden.
Die Antike als Vorbild
Zunächst finden Dichter wie Francesco Petrarca (1304 - 1374) und Giovanni Boccaccio (1313 - 1375) in den Schriften, Reden und Briefen Ciceros, den Oden des Horaz oder der Epik Vergils ein kulturelles Vermächtnis vor, das sie in jeder Hinsicht, also formal, stilistisch, moralisch und existenziell, als beispielhaft propagieren. Das neu erwachte Interesse am Erbe des Altertums erfasst nach und nach alle Künste. Bildhauer wie Donatello (1386 - 1466) und Michelangelo (1475 - 1564) schaffen an römischen und griechischen Vorbildern geschulte Skulpturen, die den menschlichen Körper in seiner Schönheit aufscheinen lassen. Architekten wie Filippo Brunelleschi (1377 - 1446), Donato Bramante (1444 - 1514) und Andrea Palladio (1508 - 1580) revolutionieren die Baukunst durch Rückgriffe auf antike Säulenordnungen, Kuppeln, ausgewogene Proportionen, Symmetrien. In ihrer Summe münden die Elemente der Rückbesinnung auf die Antike in einer Stilepoche, die bereits die Zeitgenossen als beglückende "Wiedergeburt" (rinascitá) wahrnehmen.
Zwei Seiten einer Medaille
Die heute hauptsächlich mit dem Blick auf Malerei, Baukunst, Bildhauerei als Renaissance bezeichnete Stilepoche geht untrennbar einher mit einer tiefgreifenden Umwälzung des wissenschaftlichen, literarischen und akademischen Lebens, für die sich die Bezeichnung Humanismus eingebürgert hat. Die ab dem Ende des 16. Jahrhunderts europaweit aktive Eliten-und Gelehrtenkultur bemüht sich, das ganze Potenzial wahrer Menschlichkeit (humanitas) mithilfe einer an der klassischen Antike orientierten Bildungsinitiative zu entfalten.
Von den Alten lernen
Das Fundament dieses Menschenbildungsprogramms legen die studia humanitatis mit den Disziplinen Grammatik, Rhetorik, Poesie, Philosophie und Geschichte. Den Kerngedanken der "Humanitätsstudien" formuliert Conrad Celtis (1459 - 1508) in einer Rede, die er 1492 an der Universität zu Ingolstadt hält. Wie alle anderen Humanisten ist der aus Unterfranken stammende "Erzhumanist" überzeugt, dass nur die Schriften der antiken Philosophen, Dichter und Redner den Weg zu wahrer Menschlichkeit und Gotteserkenntnis weisen, "weil nur sie uns die Art und Weise eines guten und glücklichen Lebens aufgeschrieben und die Geschichte des Menschengeschlechts (…) gleichsam als Vorbild und als einen Spiegel für das Leben zur Nachahmung vor Augen gestellt haben." Daher legt Celtis den Studenten der Universität das Studium der Alten als Rüstzeug für ein wahrhaft menschliches Dasein wärmstens ans Herz: "Von ihnen werdet ihr lernen, gute Taten zu loben und schlechte zu verdammen, von ihnen werdet ihr lernen zu trösten, zu mahnen, anzutreiben, fernzuhalten und ihr werdet euch bemühen, was der Gipfel menschlichen Glücks ist, den Urheber aller Dinge und die Natur selbst zu betrachten."
Der Sprung über die Alpen
Zunächst ist der Humanismus ein in Oberitalien schrittweise dynamisiertes Außenseiterphänomen, nicht mehr als eine rebellische Bewegung, die gegen einen verkrusteten Lehrbetrieb, einen mittelalterlichen Bildungskanon und veraltete Ausdrucksformen aufbegehrt. Doch schon im 15. Jahrhundert werden in Italien die Lehrstühle für Rhetorik und Grammatik vermehrt mit Humanisten besetzt. Um die Jahrhundertmitte sind die studia humanitatis an den meisten italienischen Universitäten fest verankert. Hier nehmen Gaststudenten und Gelehrte aus ganz Europa das neue Denken auf, um es später in die Heimat mitzunehmen und dort weiterzugeben. Am Ende des 15. Jahrhunderts hat die humanistische Gelehrtenkultur auch nördlich der Alpen dauerhaft Fuß gefasst.
Der historische Kontext
Der Humanismus entsteht weder in Italien noch in Deutschland im akademischen Elfenbeinturm. Er ist an politische, technische, soziale und wirtschaftliche Faktoren gebunden die ihn ermöglichen und vorantreiben.
- Der Buchdruck mit beweglichen Lettern: Eine sicherlich nicht zu überschätzende Medienrevolution ist der Buchdruck mit beweglichen Lettern. Die durch Gutenbergs Erfindungen und Verbesserungen rationalisierte Buchproduktion löst ein rasantes Wachstum gedruckter Werke aus. Erschienen im 15. Jahrhundert nur etwa 30.000 Titel, liegen im 16. Jahrhundert bereits rund 90.000 verschiedene Titel vor. Andere Schätzungen gehen sogar von insgesamt 130.000 bis 150.000 verfügbaren Titeln aus. Die raschere Verfügbarkeit preiswerter, in großen Mengen hergestellter und zirkulierender Drucke führt zu einer radikalen Umwälzung der Wissenskultur. Der Informationsfluss wird breiter, vielgestaltiger, vielstimmiger, erreicht immer weitere Kreise und entzieht sich einer monopolisierten Kontrolle. Seine volle Wirksamkeit erreicht der Buch- und Flugschriftendruck als wichtigstes Kommunikationsmedium der Reformation.
- Humanistenbriefe: Briefe sind wie Bücher und Flugschriften ein unverzichtbares Medium der humanistischen Gelehrtenkultur. Sie dienen dem raschen Informationsaustausch, werden herumgereicht, kommentiert, zitiert und organisieren so die europaweite Verbreitung und Weiterentwicklung humanistischer Grundüberzeugungen. Darüber hinaus etabliert die in erstaunlicher Fülle blühende, inhaltlich, wie auch stilistisch und räumlich weit gespannte Korrespondenz eine ideelle Gelehrtenrepublik, die wir modern wohl als scientific community bezeichnen würden. Dieser respublica litteraria fühlen sich fraglos die meisten Humanisten zugehörig, manche betrachten sie sogar als ihre eigentliche Heimat. Der Prototyp des humanistischen Weltbürgertums ist sicherlich der Niederländer Erasmus von Rotterdam. "Ein Bürger der Welt will ich sein", schreibt er 1522, "ein Genosse aller, oder besser gesagt, ein Wanderer" (ego mundi civis esse cupio, communis omnium vel peregrinus magis). Ein Jahr später bekräftigt er diesen Wunsch erneut: "Ich will ein Bürger der ganzen Erde sein, nicht nur der einer Stadt" (me velle esse civem totius mundi non unius oppidi)!
- Sammlungen, Bibliotheken, Museen: Adlige, aber auch Kleriker und reiche Kaufleute beginnen, Kunst-, Bücher- und Realiensammlungen anzulegen. Die mehr oder minder systematisch zusammengetragenen Kollektionen von Inschriften, Münzen, Skulpturen, seltenen Manuskripten und anderen Zeugnissen der Antike sind keine Kuriositätenkabinette, sondern Ausdruck eines keimenden historischen Bewusstseins und einer wissentlichen Betrachtungsweise der Vergangenheit. Sammler wie der Augsburger Humanist Konrad Peutinger, der auch die größte Privatbibliothek nördlich der Alpen besitzt, schaffen mit ihren "Antiquarien" die Grundlagen einer umfassenden Altertumswissenschaft.