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Kohle, Stahl und Dampfmaschinen

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Kirsten Zesewitz

Stand: 20.02.2014 | Archiv

Die Industrielle Revolution: Kohle, Stahl und Dampfmaschinen

GeschichteMS, RS, Gy

Verstädterung, Technisierung von Arbeit und Leben, soziale Spannungen und Politisierung der Bevölkerungsschichten: Keine andere Entwicklung hat die Gesellschaft so durchdrungen und umgewälzt wie die Industrielle Revolution.

Ein Jahrhundert unter Dampf

Dampfgetriebene Kraftmaschinen verändern gegen Ende des 18. Jahrhunderts in England die Arbeitswelt. Die wirtschaftliche Produktion steigt sprunghaft, der Handel gedeiht, die industrielle Fertigung von Gütern verdrängt herkömmliche Arbeitsweisen, Großstädte und Industriereviere entstehen. Mit einer Verzögerung von gut drei Jahrzehnten wiederholt sich dieser Umwälzungsprozess in zahlreichen westeuropäischen Ländern sowie in Amerika und später auch in Japan. Ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts springt die Industrialisierungswelle auch auf Deutschland über. Kennzeichnend ist der rasante Übergang von agrarisch geprägten in eine durch mechanisierte und industrielle Fertigungsweisen bestimmte Gesellschaft, in der neuartige Kraft-, Antriebs- und Produktionsmaschinen die bislang dominierende Handarbeit ablösen. Wesentliche Voraussetzungen, Begleit- und Folgeerscheinungen dieses Industrialisierungsprozesses sind:

  • Reformen des staatlichen und politischen Ordnungsrahmens (Gewerbefreiheit, Aktienrecht, Bauerbefreiung, Abbau von Handelsbarrieren)
  • die technische Perfektionierung der Produktionsmittel (Steigerung der Arbeitsleistung durch Maschinenkraft)
  • neue Wirtschafts- und Finanzierungsformen (Börse, Aktienkapital)
  • die rasche Anhäufung des nötigen Kapitals, um Fabriken zu errichten und Güter zu produzieren
  • ein steigendes Arbeitsangebot (Landflucht, Verelendung kleinbäuerlicher Schichten, rasches Bevölkerungswachstum)
  • wachsende soziale Spannungen.

Kohle, Stahl und Eisenbahn - Die Leitsektoren des Aufschwungs

Betroffen von der technologischen, sozialen und produktiven Umwälzung sind in erster Linie drei Wirtschaftssektoren, in denen ein zunehmender Maschineneinsatz sowohl das Produktionsvolumen wie auch die Lebensbedingungen der Arbeiter einschneidend verändert.

  • Eisengewinnung und Eisenverarbeitung: Da die Eisengewinnung große Mengen an Holzkohle verbraucht, wird Holz als primärer Brennstoff durch weitflächige Entwaldung und immer weitere Transportwege knapp und teuer. Der steigende Eisenbedarf zwingt die Hüttenindustrie, neue und vor allem billigere Brennstoffe einzusetzen. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts kommen vermehrt Steinkohle und Koks in Gebrauch. Die höhere Energieausbeute führt zu einem beispiellosen Aufschwung der Eisenausbeute.
  • Bergbau: Der steigende Kohlen- und Erzbedarf zwingt den Bergbau, in tiefer gelegene Flöze vorzudringen. Ein Hauptproblem dabei ist das Grundwasser, das man abpumpen muss, um die Erzlager auszubeuten. Mit Hilfe von Dampfpumpen gelingt es, diese Schwierigkeit zu überwinden. Mit den sprunghaft wachsenden Fördermengen und neuen Methoden der Stahlgewinnung steht genügend Material für den Maschinen- und Eisenbahnbau zur Verfügung.
  • Verkehrs- und Transportwesen: Dampflokomotiven, Eisenbahnen und Dampfschiffe beschleunigen seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts den Transport von Rohstoffen und Gütern. Die Frachtkapazität nimmt kontinuierlich zu, die Transportpreise sinken. Der Warenaustausch wird einfacher und schneller. Die rasche Koordination der Warenströme wird durch den Einsatz der Telegraphie ermöglicht und beschleunigt.

Dampfmaschinen und Eisenbahn treiben die Industrialisierungsspirale an

Dampfmaschinen sind der unbestrittene Motor der Industriellen Revolution. Sie vervielfachen die Transport- und Produktionskapazitäten aller Industriebereiche und senken zugleich die Frachtkosten. So lassen sich Hüttenwerke und Fabriken über große Entfernungen mit Brennstoffen und verbilligten Rohstoffen versorgen. Der zunehmende Maschineneinsatz führt insgesamt zur wechselseitigen Belebung aller flankierenden Wirtschaftssektoren, die dringend benötigte Rohstoffe (Erz und Kohle) oder Güter (Maschinen und Werkzeuge) bereitstellen. Ab den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelt sich der Eisenbahnbau zum Leitsektor der Industrialisierung. Ihr Ausbau ist auf Energie (Kohle), Rohstoffe (Erz und Stahl) und Lokomotiven angewiesen. Durch die rasante Ausweitung des Streckennetzes entsteht ein übergreifender Wachstumsimpuls, der sämtliche Industriesektoren (Kohlebergbau, Maschinenindustrie, Roheisen- und Stahlproduktion) aber auch den Handel anschiebt.

Verzögerter Start: Die Industrialisierung in Deutschland

In Deutschland setzt die Industrialisierung um die Mitte der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts ein. Ein wesentlicher Grund für den verzögerten Anlauf ist die ökonomische, geografische und politische Zersplitterung der deutschen Länder. Mehr als 3.000 innerdeutsche Zollschranken (alleine Preußen zählt 67 lokale Zolltarife), schlechte Verkehrwege, fehlende Gewerbefreiheit und eine Vielzahl unterschiedlicher Währungen erschweren den Handel.

Aufschwung der Kohleförderung und Industrialisierung des Bergbaus

Um 1800 ist Deutschland noch ein reiner Agrarstaat. Ein deutlicher Umschwung setzt erst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein: Im Ruhrgebiet entstehen vereinzelte Zentren der frühen deutschen Industrialisierung. Grundlage des allmählichen Wachstums ist der Kohlebergbau, der sich durch den Einsatz von Dampfpumpen grundsätzlich wandelt. 1839 fördern die Gruben erstmals mehr als eine Million Tonnen Steinkohle, zwanzig Jahre später hat sich die Fördermenge bereits verdoppelt und ist zum entscheidenden Standortfaktor der rasch steigenden Eisenproduktion geworden.

Abbau der Binnenzölle und innerdeutschen Handelsschranken

Ein wesentlicher Industrialisierungsschub geht vom Abbau der innerdeutschen Zollschranken aus. Den Beginn der handelspolitischen Einigung Deutschlands markiert die zwischen Bayern und Württemberg verabredete Süddeutsche Zollvereinigung von 1828. Im selben Jahr werden auch der Preußisch-Hessische Zollverein (Preußen und Hessen-Darmstadt) sowie der Mitteldeutsche Handelsverein (u.a. Hannover, Braunschweig, Kurhessen, Oldenburg, Nassau, Sachsen) gegründet. Am 1. Januar 1834 fasst der Deutsche Zollverein unter Führung Preußens die meisten Staaten des Deutschen Bundes zusammen; Österreich bleibt ausgeschlossen. 1848 gehören nahezu alle deutschen Mittelstaaten dem Zollverein an. Mit diesem Zusammenschluss ist eines der wesentlichsten Entwicklungshindernisse ausgeräumt: Da nun Waren ohne verteuernde Zollaufschläge innerhalb Deutschlands transportiert werden können, sinkt das Preisniveau bei wachsendem Güteraustausch.

Leitsektor Eisenbahnbau - Der Streckenausbau befeuert die Industrialisierung

Technisch unabdingbare Voraussetzung der Industrialisierung ist auch in Deutschland die maschinell genutzte Dampfkraft. Englands Politiker wissen um die wirtschaftliche Durchschlagskraft dieser technologischen Errungenschaft und hüten die Einzelheiten des Dampfmaschinen- und Lokomotivenbaus wie Staatsgeheimnisse. Daher greifen einige deutsche Staaten, vor allem Preußen, zum Mittel staatlich gedeckter und gewollter Industriespionage. Nach 1815 werden deutsche Ingenieure ausgeschickt, um die neuen Industriezentren Großbritanniens zu bereisen. Sie sollen detailliert über Konstruktionsgrundlagen, Fertigungsweisen und Einsatzfelder der Kraftmaschinen berichten. Zu Beginn der dreißiger Jahre ist diese Hürde überwunden. Da England die Ausfuhr von Lokomotiven jetzt gestattet und deutsche Ingenieure die Technik ausreichend beherrschen, um die Maschinen selbst zu bauen und warten, beginnt das Zeitalter der Eisenbahn auch in den Staaten des Deutschen Bundes. Maßgeblich vorangetrieben durch vorausschauende Industrialisierungspioniere wie Friedrich Harkort oder Joseph Anton von Maffei, kurbelte der Streckenbau die Nachfrage nach Eisen, Kohle, Schienen und Maschinen an und treibt das gesamtindustrielle Wachstum in Deutschland entscheidend voran.
Die erste in Deutschland gebaute Eisenbahn verkehrt ab 1835 auf der 6,1 Kilometer langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth. In Preußen setzt die Eisenbahnära 1837 mit der Strecke Leipzig-Dresden ein. 1840 folgen die Verbindungen München-Augsburg, 1841 Düsseldorf-Elberfeld, 1844: Nürnberg-Bamberg, 1846: Berlin-Hamburg.
Johann Friedrich Borsigs Maschinenbauanstalt beginnt 1841 mit der "Serien"-Produktion von Lokomotiven; bis 1846 verlassen 93 Dampfloks das Werk. Das preußische Streckennetz wächst rapide. 1840 umfasst es 170,9 Kilometer, zehn Jahre später bereits 3.557,5 Kilometer. Im selben Zeitraum wird das Eisenbahnnetz auf dem Gesamtgebiet des Deutschen Bundes von 549 auf 6.557,5 Kilometer ausgeweitet. Anfangs erfolgt der Ausbau ohne staatliches Zutun, die Schienennetze sind im Besitz privater Gesellschaften. Erst nach 1878 beginnt das Deutsche Reich mit dem systematischen Aufkauf der Privatbahnen.

Banken und Aktiengesellschaften: Die Finanziers des Aufschwungs

Nachdem die frühe Industrialisierung in erster Linie durch Eigenkapital der Unternehmer finanziert wird, entstehen im Umfeld des zunehmenden Eisenbahnbaus während der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Deutschland die ersten Großbanken, Kapital- und Aktiengesellschaften. Preußen gründet 1846 die Preußische Staatsbank mit dem Zweck, Unternehmerkredite zu vergeben; ab 1850 entwickelt sich Berlin zum Bankenzentrum. Um den Geldstrom zu vermehren, sagt Preußen eine Deckung der Zinsgewinne zu.

Armut, Krankheit, Ausbeutung - Die Schattenseite des Erfolgs

Zunächst beendet die Industrielle Revolution die Massenarmut (Pauperismus) in Europa und erhöht das Volkseinkommen. Auf lange Sicht führt die neue Gesellschaftsstruktur jedoch zu großen sozialen und politischen Spannungen. Arbeiter- und Kinderelend, Ausbeutung und völlige Abhängigkeit des neu entstehenden Industrieproletariats stellen Kirche, Politik und Unternehmertum vor dringliche Probleme. Die Hauptpunkte dieser Sozialen Frage sind:

  • Abhängigkeit: Sowohl die grund- und besitzlosen Arbeitermassen wie auch scheinbar selbständige Handwerker sind von Arbeitgebern und Unternehmern abhängig. Ein Überangebot an Arbeitskräften macht sie zusätzlich schutzlos. Soziale Unterstützungen hängen von der Bereitschaft des Arbeitgebers ab; staatliche Garantien und Arbeiterschutzgesetze im heutigen Sinn sind unbekannt. Arbeiter haben weder das Recht auf Streik, noch dürfen sie sich am Arbeitsplatz politisch betätigen (Kündigungsgrund). Das Grundrecht auf allgemeine, freie und geheime Wahl ist erst mit der Reichsgründung 1871 verwirklicht. Auch scheinbar selbständige Handwerker geraten Zug um Zug in die Abhängigkeit von Unternehmern.
  • Altersvorsorge: Ein Renten- oder Vorsorgesystem ist unbekannt; wer aus Altersgründen arbeitslos wird, muss von seinen Angehörigen erhalten werden.
  • Arbeitsbedingungen: Die Arbeit in den Fabriken belastet die Gesundheit durch Hitze oder Kälte, Lärm und Dreck sowie lange Arbeitszeiten. Fehlende Schutzvorrichtungen an den Maschinen haben hohe Unfallgefahren und -häufigkeiten zur Folge.
  • Arbeitslosigkeit: Der zunehmende Maschineneinsatz drückt das Lohnniveau der vielen Heimwerker; viele werden arbeitslos.
  • Arbeitszeiten: Da rechtliche Beschränkungen fehlen, sind überlange Arbeitszeiten an der Tagesordnung. Die Regelarbeitszeit schwankt zwischen 72 und 96 Wochenarbeitsstunden (14-Stunden-Tag).
  • Schutzlosigkeit: Versicherungen für Arbeiter und ihre Angehörigen fehlen. Wer krank wird oder einen Arbeitsunfall erleidet, hat keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung; die Hinterbliebenen verstorbener Arbeiter werden nicht versorgt. Die Arbeiter genießen keinerlei Kündigungsschutz. Schwangere Frauen haben keinen Anspruch auf Mutterschutz.
  • Kinderarbeit: Kinder arbeiten bereits ab dem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr in den Fabriken. Sie werden entweder als Hilfsarbeiter (Handlanger, Zuträger) eingesetzt. Ihre Arbeitszeit beträgt zwischen acht und zwölf Stunden; eine Ruhepause steht ihnen nur am Sonntag zu. Viele von ihnen sterben früh an Entkräftung, auszehrenden Krankheiten (Schwindsucht) oder den Folgen eines Arbeitsunfalls.
  • Wohnungsnot: Der Wohnungsbau kann mit der Bevölkerungsexplosion in den industriellen Zentren nicht Schritt halten. Statt wie früher in eigenen Kotten, leben Arbeiter und ihre Familien jetzt zusammengepfercht und dicht gedrängt auf ungenügendem, überteuertem Wohnraum. Die hygienischen Bedingungen sind äußerst schlecht und begünstigen zusammen mit körperlicher Erschöpfung und medizinischer Unterversorgung die Ausbreitung ansteckender Krankheiten.

Ansätze zur Lösung der Sozialen Frage

Industrialisierungspioniere wie Friedrich Harkort oder Alfred Krupp suchen frühzeitig nach Möglichkeiten, die Situation der Arbeiter zu verbessern. Sie richten Betriebskrankenkassen, Kantinen oder Bibliotheken ein und fördern den Bau betriebseigener Arbeitersiedlungen. Mit ihren privaten und vollends freiwilligen Leistungen schaffen sie zwar Linderung, können das grundsätzliche Problem der politischen Unmündigkeit und absoluten Abhängigkeit jedoch nicht beseitigen. Das Wesen und die engen Grenzen unternehmerischer Eigeninitiative werden am Beispiel des Kruppschen Ansatzes deutlich: Krupp handelt wie ein Patriarch. Er gründet eine Konsumgenossenschaft, richtet Arbeiterkranken und -pensionskassen ein, stellt Sterbegelder und Werkswohnungen bereit, erwartet aber als Gegenleistung die rückhaltlose Treue zum Betrieb. Wer in den Genuss der sozialen Leistungen kommen möchte, muss das strenge Fabrikreglement anerkennen und darf sich keinesfalls politisch betätigen. Die Liste der Verbote schließt auch die Lektüre politischer Schriften ein.

Politische, genossenschaftliche und gewerkschaftliche Lösungsversuche

Nach 1840 führen die wachsenden sozialen Probleme zur Gründung zahlreicher Sozialunterstützungsvereine (Frauenvereine zur Pflege armer Wöchnerinnen, Vereine zum Kartoffelanbau durch Arme, Vereine gegen das Branntweintrinken, Handwerker-, Gesellen-, Arbeiterbildungsvereine). 1848 konstituiert sich das Zentralkomitee der Arbeiterverbrüderung, im selben Jahr treten zudem hessische Gewerbetreibende zu einer Generalversammlung zusammen, der Verein zum Schutze der vaterländischen Arbeit wird gegründet. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 werden die Arbeitervereine verboten, existieren aber im Untergrund weiter. Ab 1861 lassen einzelne deutsche Staaten die Zusammenschlüsse von Arbeitern zu. Schließlich formieren sich 1863 der politisch gemäßigte Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und der enger an Marx angeschlossene, sozialistische Vereinstag Deutscher Arbeitervereine, aus dem 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) hervorgeht. 1875 vereinigt sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Reichskanzler Otto von Bismarck führt 1883 bis 1889 die gesetzliche Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung im Deutschen Reich ein.


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