Die 68er Das Thema
Das Ozonloch und der Treibhauseffekt waren noch kein Problem für die 68er, stattdessen träumten sie von Sozialismus und Weltrevolution: Protestkulturen ändern sich von Generation zu Generation. Vietnamkrieg, politische Würdenträger mit brauner Vergangenheit und vieles mehr, was die Studenten 1968 auf die Straße trieb, ist heute Geschichte. Fremd wirkt auch das Soziologendeutsch ihrer marxistischen Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, mit der sie die manipulierten Massen aufrütteln wollten, ohne zu merken, dass sie an ihnen vorbeiredeten. Dennoch brach in dieser Generation etwas auf, was über das traditionelle Feld sozialer Konflikte hinausgeht: der Wunsch nach Vielfalt der Lebensstile, die Sehnsucht nach individuellem Glück und einem freieren Leben jenseits der vorgegebenen bürgerlichen Bahnen. Noch nie zuvor hatte eine Generation mit solcher Vehemenz das Recht eingeklagt, menschliche Beziehungen im Privaten und Politischen zu überprüfen und neu zu definieren. Die Notwendigkeit der Anpassung an das Bestehende wurde radikal in Frage gestellt – und wurde nie wieder so selbstverständlich wie früher.
Das politische Klima der Bundesrepublik
Die Studentenbewegung der 60ger Jahre gedieh in einem gesellschaftlichen Klima, das von Werten wie Moral, Pflicht, Vaterland geprägt war. Auch bei der SPD saß die Angst tief, als vaterlandslose Gesellen diffamiert zu werden. Die gesellschaftlich erwünschte Gesinnung formierte sich vor allem in der Frontstellung gegen den Kommunismus der „Ostzone“: Politische Abweichler gerieten schnell in den Verdacht, vom Osten gesteuert zu sein und gegen die Interessen der Bundesrepublik zu handeln. Um den Volkszorn auf sich zu ziehen, genügte es schon, als Mann lange Haare zu haben und auf der Straße Gitarre zu spielen. Die Generation des Wirtschaftswunders stand im Bann von Einbauküchen, VW Käfern, Fernsehgeräten und anderen Zeichen des über breite Schichten hereinbrechenden Wohlstands. Die 1966 gebildete Große Koalition zwischen CDU und SPD verkörperte den Mainstream und lähmte den Parlamentarismus.
Generationenkonflikte
Eine empirische Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie hatte noch im Winter 1966/67 die grundsätzlichen Einstellungen der bundesdeutschen Studenten als „konformistisch, apolitisch, vergnügungs- und karrieresüchtig“ bezeichnet. Aber das sollte sich schnell ändern: nicht zuletzt unter dem Eindruck der Studentenunruhen in den USA, die sich am Protest gegen Rassendiskriminierung und Vietnamkrieg entzündeten. In Deutschland war die Kluft zwischen den Erfahrungswelten von Eltern und ihren erwachsenen Kindern besonders tief: Die Eltern hatten den Krieg erlebt und waren belastet durch den Nationalsozialismus, die Kinder waren geprägt durch wachsenden Wohlstand und den steigenden Stellenwert der Bildung in der Gesellschaft. Die Universitäten öffneten sich für immer mehr Menschen, und die waren nicht mehr bereit, die Studienbedingungen kritiklos hinzunehmen. Sie drängten zu Analyse und Aktion, Lust auf Veränderung machte sich breit – erst auf die Veränderung der Hochschulpolitik, dann auf die Veränderung der Welt.
Der Sozialistische Deutsche Studentenbund und die APO
„Mord durch Napalm-Bomben! Mord durch Giftgas! Mord durch Atombomben!“ Das stand auf einem Plakat gegen die „US-Aggression in Vietnam“, das in der Nacht vom 3. und 4. Februar 1966 an Häuserwände in Berlin geklebt wurde – von einer Gruppe Studenten aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), zu der auch Rudi Dutschke gehörte. Der SDS war eigentlich ein sozialdemokratischer Ableger, doch die Mutterpartei hatte sich von ihm getrennt, weil er den im „Godesberger Programm“ 1959 festgelegten Kurs weg von einer klassenkampforientierten Arbeiterpartei hin zu einer mehrheitsfähigen Volkspartei nicht mittragen wollte. Das war die Geburtsstunde der„Außerparlamentarischen Opposition“ (APO), die aktionsorientierte, öffentlichkeitswirksame, von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung inspirierte Formen der politischen Einflussnahme außerhalb des Parlaments entwickelte mit dem Ziel, der Institutionalisierung und Kommerzialisierung des Lebens zu entkommen: Linke Zeitungen, Transparente, Flugblätter, Demonstrationen, Happenings, Sit-ins, Teach-ins, Love-ins, neue Formen des Zusammenlebens in Kommunen erschütterten das Establishment. Live on the wild side!
Rudi Dutschke
"Die Revolutionierung der Revolutionäre ist so die entstehende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen. Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!"
Rudi Dutschke
Als einer der Wortführer der Revolte, setzte er seine revolutionären Hoffnungen nicht mehr nur auf die ins System integrierte Arbeiterklasse, sondern vor allem auf die unterdrückten Völker in der „Dritten Welt“.
Die Solidarität mit ihnen sollte auch in den westlichen Industriegesellschaften die Geburt des von den Zwängen der Ökonomie befreiten Menschen befördern. Die psychischen Voraussetzungen revolutionärer Tätigkeit in einer Konsum- und Leistungsgesellschaft, der es im steigenden Maße gelang, die proletarischen Massen zu integrieren, mussten erst noch geschaffen werden – im lebendigen Prozess. Der Weg war mindestens ebenso wichtig wie das Ziel. Der christlich geprägte Soziologiestudent und Familienvater Rudi Dutschke hielt kritische Distanz zu vielen Lehrsätzen des orthodoxen Marxismus und zu den ideologischen Verstiegenheiten innerhalb der Bewegung. Seine charismatische Persönlichkeit transportiert über den Tod hinaus die Hoffnung der Studenten auf eine bessere, eine freiere Welt.
Der Mord an Benno Ohnesorg
Eine weitere Symbolfigur der Bewegung war Benno Ohnesorg, ein damals 26-jähriger Student der Germanistik und Romanistik.
Ein Polizeibeamter schoss ihm am 2. Juni 1967 während der Massenproteste gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin aus nächster Nähe in den Kopf. Das Bild des jungen Mannes, der sterbend auf dem Straßenpflaster liegt, während sich eine junge Frau über ihn beugt und seinen blutenden Kopf hält, ging um die Welt. Es radikalisierte die Bewegung und sensibilisierte auch große Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit gegen einen Staat, der in der Auseinandersetzung mit seiner revoltierenden Jugend vorschnell nach dem Polizeiknüppel rief.
"Dieses Bild zeigt die Opfersituation, auch die Zuwendung, Verzweiflung angesichts der Ohnmacht gegenüber dem Faktischen, der Gewalt, dem Tod, all das verwandelte den schon vorhandenen, aufgestauten Unwillen in den Willen zur Tat. Die Zeit war, wie es heißt, reif. Aber damit es zu solchen Wetterschlägen kommt, ist eine besondere Situation nötig, eine besondere Person, ein besonderes Bild, das sich im Bewusstsein verankert, das Erkennen mit dem Gefühl auflädt, was wiederum die analytisch gewonnene Erkenntnis befeuert"
schreibt der Schriftsteller Uwe Timm in seinem 2005 erschienenen Roman über Benno Ohnesorg, 'Der Freund und der Fremde'
Uwe Timm kannte Benno Ohnesorg gut und bezeugt, dass er in nichts dem Zerrbild des gewaltbereiten Bürgerschrecks entsprach, sondern ein sensibler, nachdenklicher Mensch mit künstlerischen Neigungen war. Kriminalobermeister Kurras, der Ohnesorg erschossen hatte, wurde vor Gericht freigesprochen.
Attentat auf Rudi Dutschke – Osterunruhen 1968 – Kampagne gegen Springer
Am Abend des 10. April 1968 hätte Rudi Dutschke beinahe ein ähnliches Schicksal ereilt. Der 24-jährige Hilfsarbeiter Joseph Bachmann schoss ihn auf offener Straße nieder. In seinen Taschen fand man Zeitungsausschnitte mit Hetztiraden gegen Dutschke, was den Täter in den Ruf brachte, nur ein willfähriges, verblendetes Instrument der allmächtigen Springer-Presse und ihrer BILD-Zeitung zu sein. Während der schwerverletzte Dutschke im Krankenhaus um sein Leben kämpfte, versammelten sich Studenten vor dem Springer-Haus in Kreuzberg und versuchten vergeblich, die Auslieferung von BILD zu verhindern. Die Unruhen erstreckten sich bis über die Ostertage und nahmen an Heftigkeit zu. Zwei weitere Menschen starben, getroffen von Steinwürfen vermutlich aus den Reihen der Protestierenden. Rechtsanwalt Horst Mahler, damals linker Aktivist, später RAF-Gründungsmitglied und heute dem rechtsextremen Lager zuzuordnen, kommentierte diese Tode so:
"Wir mussten von vornherein mit solchen Unfällen rechnen. Es hat keinen Sinn, mit menschlichen Argumenten zu kommen … Das ist genauso, wie wenn ich mich an das Steuer eines Autos setze und damit rechnen muss, dass ein Reifen platzt."
Horst Mahler
RAF und SDS
Dieser Zynismus zeugt davon, dass die radikalen Weltverbesserer vor Unmenschlichkeit keineswegs gefeit waren. Der Weg von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und anderen in den bewaffneten Untergrund hin zur Gründung der Rote-Armee-Fraktion (RAF) wurde von der Mehrheit der protestierenden Studenten zwar nicht gutgeheißen, nahm aber doch seinen Ausgang von der Bewegung und in seinen ersten offen terroristischen Ausbrüchen im Mai 1972 auch deutlich Bezug auf sie. Rudi Dutschke konnte lange Zeit keinen Einfluss nehmen, weder auf gefährliche Radikalisierungstendenzen noch auf den Zerfall der Bewegung in sich heftig bekämpfende Splittergruppen. Er erholte sich nach dem Attentat nur äußerst mühsam, wurde nie wieder ganz gesund und starb elf Jahre später nach einem epileptischen Anfall, einer Spätfolge des Attentats. In der Zeit, die ihm noch blieb, engagierte er sich für die Grünen.
Als sich die RAF Anfang der 70er Jahre dem Terror verschrieb, hatte sich der SDS bereits aufgelöst, zermürbt von internen Auseinandersetzungen. Die Politik des Bundeskanzlers Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) veränderte das politische Klima in der Bundesrepublik und machte die parlamentarische Demokratie für große Teile der Linken wieder attraktiv. Andere drifteten entweder in marxistisch-leninistische Zirkel ab oder in die Esoterik- und Psychoszene.
Geburtsstunde der Frauenbewegung
Größere öffentliche Wirksamkeit und eine nicht zu unterschätzende politische Brisanz sollte im Laufe der 70er Jahre eine Entwicklung entfalten, die die Endphase des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes flankierte: Studentinnen hatten ihre Statistinnenrolle satt. Sie attackierten öffentlich den Machismo der Genossen und traten für ihre eigenen Interessen ein. Das war die Geburtsstunde der Frauenbewegung. Und die ist nicht das einzige Erbe der 68er Generation. Die Grünen, die Alternativen, die Umweltbewegung, die Jugendzentren, die Wohngemeinschaften, die Bürgerinitiativen – das sind Formen des Engagements, das sind Lebensstile, die sich auch der Protestkultur der 60er und 70er Jahre verdanken und auf ihren Erfahrungen aufbauen. Die Weltrevolution ist ausgeblieben – aber verändert hat sich vieles.