Quälgeist und treuer Gefährte Hintergrund
O'zapft is!
Dass sie uns derart auf die Pelle rücken, liegt an ihren Ernährungsgewohnheiten. Flöhe sind Parasiten: Sie befallen warmblütige Säugetiere und pumpen sich mit dem Blut ihrer Wirte voll. Einer von ihnen kommt uns dabei besonders nah: Pulex irritans, der Menschenfloh. Er tankt zwar zwischendurch auch bei anderen Wirten, aber uns mag er am liebsten. Zum Anzapfen bohrt er seinen kombinierten Stech- und Saugrüssel tief in unsere Haut. Um möglichst lange ungestört zu schmarotzen, träufelt er mit seinem Speichel schmerz- und gerinnungshemmende Substanzen in die Bisswunde. Das ist gut für den Floh, aber schlecht für den Wirt. Denn das Sekret enthält auch Allergene, die heftige Reaktionen auslösen. Die Einstichstelle schwillt hochrot an und juckt noch Stunden oder gar Tage lang so quälend, dass sich manche Opfer blutig kratzen. So ist der Peiniger auch zu seinem lateinischen Namen gekommen: Pulex heißt Floh, irritans bedeutet "reizen, erzürnen". Genau das tut er seit je: Er quält und reizt uns bis aufs Blut.
Springen, hüpfen, wimmeln
Wie selbstverständlich der Floh einst zu unserem Alltag gehörte, spiegeln viele Redewendungen. Mehr als 80 Einträge zum Stichwort "Floh" zählt das Deutsche Sprichwörterlexikon. Einige sind noch heute gebräuchlich. Wer jemandem Flöhe ins Ohr setzt, infiziert sein Gegenüber mit einem hartnäckigen Hirngespinst. Wer Flöhe husten hört, bläht Nichtigkeiten auf. Wer einen Auftrag für unzumutbar hält, hütet lieber einen Sack voll Flöhe, als das Verlangte zu erledigen. Solche Weisheiten bezeugen nicht nur die große Vertrautheit zwischen Mensch und Floh. Sie verdichten auch über Generationen gesammelte Beobachtungen und Erfahrungen. Das Bild des Flohsacks funktioniert nur deshalb, weil Flöhe winzig und springlebendig sind. Zwischen drei bis vier Millimeter misst so ein Menschenfloh und wiegt gerade mal zwei Milligramm. In einem Zentnersack hätten also locker 25 Millionen Flöhe Platz, die sich aus dem Stand blitzschnell bis zu einen Meter weit und fünfzig Zentimeter hoch durch die Gegend katapultieren. Das ständige Gehüpfe und Davonspringen steckt auch im Tiernamen selbst: Floh kommt von "fliehen", nicht nur im Deutschen. Auch das Holländische "vlo" und das englische "flea" machen den Zusammenhang sichtbar.
Immer auf dem Sprung
Ohne ihre Sprungkraft wären die Flöhe komplett aufgeschmissen. Ihre sechs Beine sind nicht zum Laufen gedacht, die Tiere können weder wenden noch rückwärts und noch nicht einmal besonders gut vorwärts krabbeln. Bleibt nur eine Möglichkeit, um Katzen, Hunde, Menschen oder andere Wirte zu entern: Schnell, weit und hoch hüpfen. Das beherrschen sie meisterhaft. Flöhe überspringen das 250fache ihrer eigenen Körperlänge und beschleunigen beim Absprung in einer Millisekunde auf das 200fache der Erdbeschleunigung. Um es ihnen gleichzutun, müsste ein Mensch etwa 450 Meter hoch springen, und das auch noch unglaublich ausdauernd: Flöhe schaffen dieses Kunststück sechshundertmal pro Stunde.
Gespannt wie ein Flitzebogen
Mit schierer Muskelkraft sind solche Spitzenleistungen nicht erklärbar. Muskeln ermüden rasch und könnten die nötige Absprungraft nie derart kurzfristig bereitstellen. Daher hat die Evolution den Flöhen etwas weitaus Besseres mitgegeben: Einen superelastischen Bio-Gummi namens Resilin. Das langkettige Eiweißmolekül kann Spannenergie wie eine Bogensehne speichern und schlagartig freigeben. Um das elastische Potenzial des Proteins zu nutzen, setzen Flöhe vor jedem Sprung eine Art Armbrusttechnik ein: Sie ziehen die Beine an, pressen dadurch kleine Resilinpolster im Bewegungsapparat zusammen und arretieren die Gliedmaßen in dieser Position. Sobald sich die verhakten Beine lösen, gibt das Resilin die gespeicherte Energie blitzschnell frei.
Hosengummi für die Ewigkeit
Kein Wunder, sich die Bionik für dieses Elastikwunder interessiert. Resilin ist ein Material der Superlative: Es lässt sich dauerhaft auf das Dreifache dehnen ohne zu ermüden oder brüchig zu werden, es verkürzt sich immer wieder auf seine Ausgangslänge und ist vollständig biologisch abbaubar. Biotechnisch hergestelltes Resilin würde extrem dehnbare Supergummis ermöglichen, die nie mehr ausleiern, ihre Spannung dauerhaft halten, nie zerfallen. Der ideale Werkstoff für neuartige Autoreifen, Laufschuhe, Dichtungen oder medizinische Implantate. Im Prinzip klappt das auch schon ganz gut. 2005 konnten australische Forscher erstmals künstliches Resilin im Labor erzeugen. Allerdings nur in flohtypischen, das heißt winzigsten Mengen. Bis der Eiweißgummi serienreif ist, hält der Floh seinen gewaltigen Vorsprung.
Meister Floh und die Künste
Große Sätze macht er übrigens nicht nur in der Natur. Auch in der Kulturgeschichte hat es Pulex irritans erstaunlich weit gebracht. Er hat sich sogar eine eigene Literaturgattung erobert. Bemerkenswert an diesem Flohschrifttum, das vom 15. bis ins 18. Jahrhundert in vielen Formen üppig ins Kraut schießt, ist vor allem eins: Der Blutsauger kommt erstaunlich gut weg. Er sticht, beißt, nervt, aber das nimmt ihm niemand richtig krumm. Unterm Strich erscheint Meister Floh in Schwänken, Satiren, Fabeln und Moralgeschichten als durchaus liebenswerter, pfiffiger, lebenslustiger Filou.
Volksheld und Rebell
Für das positive Image des Parasiten sorgt ausgerechnet sein Blutdurst. Den stillt Pulex irritans nämlich höchst egalitär, ohne Ansehen des Standes und der Person, ohne Rücksicht auf Herkunft, Vermögen oder Vorrecht. Vor dem Floh sind alle gleich. Egal ob Kaiser oder König, ob Bürger, Bauer oder Bettelmann, der Floh packt sie alle. Er ist ein Volksheld der für ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einer Welt voller Willkür sorgt. Und wie der Tod schafft er Gleichheit in einer Gesellschaft, die auf schreiender Ungleichheit basiert. Das kitzelt die Schadenfreude und spendet Trost, das macht den Floh sympathisch und das eigene Schicksal erträglicher. In manchen Geschichten und Redewendungen gärt freilich auch ein rebellischer Unterton: "Der Floh ärgert den Löwen mehr als der Löwe den Floh", heißt es da, oder "Magere Flöhe beißen scharf". Das ist ein klares Warnsignal an die Obrigkeit: Der Floh als Allegorie des Volkszorns, als Wappentier der Unterdrückten, die fürs Erste nur literarisch aufbegehren. Später zeigen Landstürme, in denen mit Mistgabeln, Sensen und Dreschflegeln bewaffnete Bauernhorden befestigte Städte und Ritterheere angreifen, wie böse ein gereizter Floh zustechen kann.
Flohland ist Frauenland
Manche Erzählungen kehren die Rollenzuschreibung auch um. Da ist der Floh dann nicht mehr das Sinnbild des kleinen Mannes, sondern eine Metapher für die rücksichtslose Ausbeutung des Volks durch Adel und Geistlichkeit. In solchen Geschichten haben beide Stände dieselbe maßlose, hinterhältige, unersättliche und ewig hungrige Flohnatur, beide vermehren sich ungebremst und halten sich bevorzugt bei Frauen auf. Der Witz zündet, weil er auf fundamentalen Glaubenssätzen der Flohliteratur fußt: Flöhe sind gierig, Flöhe saugen Blut, Flöhe beißen schmerzhaft und: Flöhe mögen Frauen!
Flohhatz, Weibertratz
Wissenschaftlich belegbar ist die steile These nicht, weder damals noch heute. Aber das ist für ein Axiom völlig belanglos. Flöhe und Frauen haben ein besonderes Verhältnis. Das steht seit dem Mittelalter unverrückbar fest, und an Begründungsversuchen herrscht auch kein Mangel. Mehr naturkundlich orientierte Deuter sehen den Floh als Feinschmecker, der das süßere Blut und die weichere Haut der Frauen vorzieht. Moralisten und Prediger wähnen eine didaktische Schöpfungskomponente am Werk. Sie glauben, Gott habe den Floh als Strafe für weibliche Eitelkeit und Kleiderprunk oder als Reizmittel gegen Müßiggang und Trägheit geschaffen. Wie auch immer: Die Flöhe plagen die Frauen und die Frauen zahlen es den Flöhen heim. Sie rücken dem Quälgeist mit Spürsinn, spitzen Fingernägeln, mit List und Ausdauer, mit Flammen, Flohfallen, Flohpelzen und anderen zweckreichen Einrichtungen unerbittlich zu Leibe. Es ist Krieg, schlagt den Feind, wo ihr ihn trefft, Pardon wird nicht gegeben!
Filou, Lüstling, Lebemann
Dass Pulex irritans vor allem Frauen aufsucht und dabei mit Vorliebe in feuchtwarme Körperregionen wie Achselhöhlen, Kniekehlen oder den Schambereich vordringt, entfaltet bei vielen Autoren belebende und geradezu aphrodisische Wirkungen. Die Wanderungen des Flohs triggern ausschweifende Männerfantasien. Unzählige, oft naturkundlich oder moralisch verbrämte Geschichten folgen ihm detailverliebt auf seinen Ausflügen in die Feuchtgebiete des weiblichen Körpers. Dort durchmessen sie schlüpfrig Busch und Tal, verlieren sich selig und verbuhlt im Venusberg, nutzen ihre Gelegenheit, zumindest sprachlich endlich einmal deftig unter die Gürtellinie zu greifen. Die Abenteuer der schlüpfrigen Leibesvisitation werden jedoch nicht nur besungen, sondern auch gezeichnet, modelliert und immer wieder gemalt. Wenn sich leichtgeschürzte Damen nächtens ungesehen wähnen und unter ihren Kleidern auf Flohjagd gehen, sucht das Auge des Betrachters stets genüsslich mit.
Die Zuchtrute Gottes
Angesichts solcher Vorzüge überrascht es kaum, dass der Floh so viele Sympathiepunkte sammelt. Er ist ein Gerechtigkeitsapostel und Gleichmacher, ein Volksheld und Rebell, ein Frauenerzieher und Schürzenjäger, ein Schelm und Filou. Und es gibt noch einen weiteren Grund für seine Beliebtheit: Pure Unwissenheit. Flohbisse gelten als lästig, aber unvermeidlich und vor allem als harmlos. "Flohstiche schaden nicht", heißt es jahrhundertelang, oder "ein Flohstachel ist mehr gefährlich als beschwerlich". Wir wissen es heute besser. Aber bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts ahnt niemand, dass ausgerechnet der winzige Floh so gewaltige Menschheitsschrecken wie Fleckfieber und Pest auf dem Kerbholz hat.
Bakterientransfer und Seuchenpfade
In Europa mäht der Schwarze Tod allein zwischen 1347 und 1352 etwa 25 Millionen Menschen nieder, bis ins 18. Jahrhundert flackern immer wieder regionale Pestepidemien auf. Die Menschen sind dieser Geißel hilflos ausgesetzt und suchen nach Erklärungen. Manche glauben an die Auswirkung schädlicher Dünste, andere machen spezielle Sternkonstellationen für den Ausbruch der Seuche verantwortlich, die meisten vermuten eine Strafe Gottes und wähnen das Weltende nahe. Erst 1901 beschuldigt der Insektenkundler Nathaniel Charles Rothschild den Rattenfloh als Seuchenüberträger. Die anfangs belachte Theorie bestätigt sich rasch. 1914 können Arthur Bacot und Charles Martin den Übertragungsmechanismus erstmals präzise beschreiben. Der Insektenspezialist und der Biologe erkennen, dass sich die mit dem Blut aufgesaugten Pestbakterien im Vormagen des Rattenflohs vermehren und verklumpen. Will der Floh erneut Blut schlucken, muss er den Klumpen zuvor hochwürgen. Beim Zubeißen überträgt er die hoch ansteckende Fracht unweigerlich in die Blutbahn des neuen Wirts.
Fataler Wirtswechsel
Das wäre an sich noch nicht allzu problematisch. Aber der Rattenfloh ist wie alle Flöhe nicht auf einen einzigen Wirt fixiert. Fällt der Stammgastgeber aus, beispielweise, weil die infizierte Wirtsratte an der Pest gestorben ist, wechselt der Rattenfloh einfach zur nächstbesten Quelle. Das können andere Nager, aber genauso gut Menschen sein. Hauptsache lebendig, Hauptsache warmes Blut, alles andere ist zweitrangig. Erst durch diesen Wirtswechsel mutiert der an sich harmlose Floh zu einem potenziellen Massenmörder, der in vielen Teilen der Welt noch heute Infektionskrankheiten wie Fleckfieber und sogar die Pest übertragen kann.
Vertreibung und Reservat
Vor solchen Horrorszenarien müssen wir in Mitteleuropa keine Angst mehr haben. Zum einen ist die Pest durch Antibiotika gut heilbar, zum andern ist das Pestbakterium in unseren Breiten ausgestorben. Ratten-, Hunde- und Katzenflöhe haben also kaum eine Chance, mit dem Erreger in Kontakt zu kommen. Und um Pulex irritans, den Menschenfloh, ist es gerade auch nicht zum Besten bestellt. Er ist recht selten geworden. Staubsauger, fugenlose PVC-Böden, geflieste Räume und aggressive Reinigungsmittel haben ihm seine natürlichen Aufenthalts- und Rückzugsorte geraubt. Er findet schlicht nicht mehr genügend Ritzen, Zwischenräume, Dielenspalten, um seine Brut ungestört aufzuziehen. So geht eine lange Hassfreundschaft leise zu Ende. Wer sie punktuell auffrischen möchte, kann sich ja Haustiere halten oder einen nostalgischen Abstecher machen: in den Flohzirkus. Wenn die winzigen Artisten dort Dreirad und Karussell fahren, wenn sie Kutschen ziehen, auf dem Hochseil tanzen, Tore schießen oder um die Wette laufen, darf es gerne kribbeln. Aus Spaß an der Freud, mit Anstand und in allen Ehren.