Das Thema Die Viersäftelehre
Die Viersäftelehre des römischen Arztes Galenus prägte die mittelalterliche Medizin. Grundlage dieses humoralpathologischen Denkens sind zwei Überzeugungen:
- Alles Geschaffene geht auf die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde zurück.
- Alle Elemente - ob belebt oder unbelebt - haben daher vier Eigenschaften (Temperamente): warm, kalt, trocken und feucht. Diese Eigenschaften treten entweder rein oder vermischt auf.
Die Viersäftelehre - Die Medizin des Mittelalters
Wie überall in der Natur finden sich die vier Grundelemente und ihre Eigenschaften auch im Körper des Menschen wieder. Befinden sich die Bestandteile in einem ausgewogenen Verhältnis zum Ganzen, ist der Mensch gesund. Jedes übermäßige Ausschlagen in Richtung eines Temperaments, jedes Zuviel an Feuchte, Trockenheit, Hitze oder Kälte, ist dem Körper schädlich. Die Folge ist Verlust der Gesundheit, Todesnähe oder Tod. Gott hat als voraussehender Schöpfer vorgesorgt und gegen jedes Gebrechen Heilmittel (Pflanzen, Mineralien, Tränke) geschaffen, die einen krankmachenden Überschuss neutralisieren und den Körper heilen können.
Galenus und Dioskurides - Die Väter der Viersäftelehre
Die Ursprünge dieser Lehre gehen auf Galenus und Dioskurides, die Lehrmeister der abendländischen Medizin zurück. Galenus errichtet in seinen medizinischen Schriften eine Theorie, die für die abendländische Heilkunde bis weit ins 17. Jahrhundert maßgeblich bleibt. Dabei beerbt er eine reiche Tradition, deren verstreute Teile er zusammenfügt und ordnet. Von den Naturphilosophen übernimmt Galenus die Lehre vom Kosmos als einem rational gebauten Ganzen, wobei der Mensch als Bestandteil dieses Gefüges in das natürliche Geschehen mit einbezogen ist. Empedokles lehrt ihn, dass aus vier Elementen - Feuer, Wasser, Luft und Erde - alles Seiende gemischt ist. Polybios zeigt, wie dieses elementare Viererschema auf den Körper des Menschen zu übertragen und in den vier Körpersäften Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle zu finden ist: Die vier Körpersäfte (humores), zeichnen sich durch vier wesentliche Beschaffenheiten aus - warm, kalt, trocken und feucht.
Hippokrates - Die Mischung macht's
Hippokrates erweitert das Vorhandene: Stehen die humores im Zustand der Eukrasie, der ausgewogenen Mischung aller Körpersäfte, ist der Mensch gesund. Als Dyskrasie bezeichnet er jede krankmachende Verschiebung dieses Gleichgewichtes hin zu einem Mischungsverhältnis, das durch das Überwiegen des einen, oder den Mangel eines anderen Saftes gestört ist. Der Vater der abendländischen Medizin holt weiter aus als seine Vorgänger, zieht die ganze Welt des Erfahrbaren in sein Denken hinein und ordnet die Elemente und Qualitäten einzelnen Abschnitten des Jahreskreises zu. Der kalte Schleim entspricht dem Winter, wo er, das Schniefen und Schnauben beweist es, im Körper zunimmt. Im Frühjahr vermehrt sich das warme Blut, die gelbe Galle beherrscht den Körper im Sommer, im Herbst schließlich gewinnt die schwarze Galle, Sitz und Ursprung der Melancholie, die Oberhand.
Krankheit ist Unordnung und verlorenes Gleichgewicht
Damit liegen die wesentlichen Bausteine bereit. Galenus stellt die goldene Regel der Humoralpathologie (Säftelehre) auf: Krankheiten, die aus dem Ungleichgewicht der Säfte und Temperamente herrühren, sind mit spiegelnden Mitteln zu behandeln, die diesen Missstand ausgleichen. Vorzüglich dazu sind die simplicia geeignet, also einfache Medikamente, die nur aus einem statt mehreren Bestandteilen bestehen. Trocken, feucht, warm oder kalt werden sie nach der vorherrschenden Qualität benannt. Dabei sind jeweils vier Intensitätsgrade anzusetzen. Im ersten Grad ist beispielsweise alles angesiedelt, was uns sinnlich kaum wahrnehmbar scheint. Alle Heilmittel, die ihrer Beschaffenheit nach deutlich wärmen, kühlen, trocknen oder feucht machen, gehören dem zweiten Grad an, dem dritten diejenigen, die schon heftig, nicht jedoch extrem wirken. Alle diejenigen aber, die ihrer Beschaffenheit nach so wirken, dass sie ätzen und brennen, vereisen oder ausdörren, gehören dem vierten Grad an.
Der Arzt entscheidet, in welchem Grade und in welche Richtung der Patient aus dem harmonischen Mittel der Eukrasie verschoben ist und verschreibt das jeweils entgegengesetzt wirkende, gleichsam spiegelnde Medikament. Mischungen dieser angezeigten Kontraindikationen renken selbst verzwicktetste Diskrasien wieder ein.
Eine göttlich gegebene Ordnung
Nahezu anderthalb Jahrtausende ruht die abendländische Heilkunst auf diesem unbestrittenen Sockel. Im Mittelalter schließlich erlebt das humoralpathologische Viererschema, eingeschmolzen in die im Wesentlichen tetramorph (viergestaltig) ausgerichtete Weltschau ihren Gipfel. Denn die auch in den vier Körpersäften erkennbare Vier gilt als Maßzahl des göttlichen Weltenbauers; in ihr offenbart sich die universelle Schöpfungsarchitektur all jener sichtbaren Dinge, die unmittelbar den Menschen berühren (Der Name Adams und damit der Name des Menschen schlechthin, zählt vier Buchstaben, vier Flüsse durchfließen den Garten Eden, das Jahr ordnet sich in vier Jahreszeiten, wir kennen vier Himmelsrichtungen, vier Evangelisten usw.). In dieser tetramorphen Weltensumme geht die Humoralpathologie naht- und bruchlos auf und bleibt, auch über das Ende des eigentlichen Mittelalters hinaus, bis ins 17. Jh. wirksam.
Eines bleibt über die Jahrhunderte hinweg gleich. Stark vereinfacht werden Krankheiten im humoralpathologischen System als Überwiegen eines Körpersaftes und damit eines Temperamentes erklärt. Nach dem Konzept der gegenwirkenden Säfte und Temperamente geben die Arzneibücher an, wie und mit welchen Stoffen eine gestörte Balance wiederhergestellt werden kann. So verfährt unter anderem Hildegard von Bingen: Bei ihr lesen wir beispielsweise über die pharmakologische Wirkung der Zitrone (die Frucht des Bontziderbaumes): "Eher warm als kalt sind die Zitronen, wer unter täglichen Fieberschüben leidet, koche die Blätter dieses Baumes in Wein, trinke häufig und wird geheilt. Die Äpfel [die Zitrone selbst] senken das Fieber".