Ambivalenz Ohne Ambivalenzbewältigung keine Demokratie
Wir leben in einem Umfeld zunehmender Ambivalenzerfahrungen. Das dissonante Nebeneinander unterschiedlicher, oft völlig gegensätzlicher Gefühle, Gedanken, Haltungen, Meinungen ist längst Teil unseres Alltags. Massenkommunikationsmittel und Soziale Medien feuern unaufhörlich eine Vielzahl meist ungefilterter, extrem heterogener Fakten, Meinungen, Haltungen und Befindlichkeiten auf uns ab. Zudem entwickeln sich die westlichen Industriestaaten ebenso unaufhaltsam wie irreversibel zu multireligiösen und polykulturellen Gesellschaften. Der Druck, den ambivalente Erfahrungen und Gefühle auslösen, nimmt zu und muss sowohl individuell wie auch politisch und gesellschaftlich bewältigt werden.
Widersprüchlichkeit als Überforderung
Dazu sind jedoch längst nicht alle bereit. Viele Menschen sind durch die wachsende Ambivalenzfülle einer offenen, mischethnischen Gesellschaft und den politischen Pluralismus überfordert. Das hat deutliche und vor allem bedrohliche Folgen: Die Zunahme der tatsächlichen oder vermeintlichen Komplexität unserer Welt schürt das Verlangen nach schnellen, klaren, eindeutigen Antworten. Auch hinter der Forderung nach dem Erhalt monoethnischer Traditionsgemeinschaften, nach einer "reinblütigen" Nation oder dem Ende von "Multikulti" steckt oft die Kapitulation vor den Widersprüchen einer zunehmenden Pluralität in Gesellschaft, Kultur und Politik.
Gegen die radikale Verkürzung der Wirklichkeit
Das Unvermögen, ambivalente Erfahrungen in ihrer gegensätzlichen Vielfalt bestehen und gelten zu lassen, produziert problematische Verhaltensmuster und Haltungen. Denn die erstrebte politische, weltanschauliche und "völkische" Eindeutigkeit ist nur durch die Reduktion von Komplexität erreichbar. Das nicht ambivalenzfähige System rettet sich durch Abgrenzung, Ausgrenzung und Abspaltung unerwünschter Anteile. Im Klartext: Rassistische, fremdenfeindliche Bewegungen, nationalistische Umtriebe und völkische Erweckungsrufe, der Erfolg von volksverhetzender und rechtspopulistischer Bewegungen sind Folgen nicht bewältigter und verweigerter Ambivalenz.