Grenzen setzen Die hohe Kunst der Selbstobsorge
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Wer sich als Kind nicht darin geübt hat, wirksame Grenzen zu setzen, ist auch als Erwachsener schlecht gegen Übergriffe, Ausnutzung, Überforderung und Anpassungsdruck gefeit. Das erworbene Abgrenzungsdefizit schlägt in allen Lebensbereichen, in Freundschafts- und Liebesbeziehungen und vor allem im Berufsleben dauerhaft durch. Kollegen, Vorgesetzte, Auftraggeber, Teammitglieder spüren schnell, ob jemand alles mit sich machen lässt oder Zumutungen entschieden zurückweist. Ein Grund für kollegiale oder bossige Ausbeutungsattacken findet sich immer: die "besonderen Umstände", die "absolute Ausnahmesituation", die "plötzliche Notlage", der "unvorhergesehene Engpass".
Wenn die persönliche Firewall versagt
Wenn wir uns nicht gegen solche Dringlichkeitsappelle und gegen Ködersätze wie "Ich brauche deine Hilfe!", "Sie kriegen das schon hin!", "Auf Sie ist doch immer Verlass!" oder "Lass mich bitte nicht im Stich!" abgrenzen können, wird es heikel. Eigentlich haben wir keine Lust, keine Zeit, eigentlich fühlen wir uns überfordert, ausgenutzt, bedrängt. Aber "nein" zu sagen, bringen wir nicht übers Herz. Und schon schnappt die Falle zu: Wir hängen uns rein, packen uns Zusatzarbeit auf, beißen uns durch, machen Überstunden ohne Ende, erledigen doofe Jobs, um die sich alle drücken. Lohnt sich das? Kurzfristig vielleicht. Immerhin vermeiden wir Konflikte und Konfrontationen, gehen unangenehmen Reaktionen und unterschwelligem Rechtfertigungsdruck aus dem Weg. Und wir wähnen uns wichtig, bestätigt, akzeptiert, ernten Dankbarkeit, machen uns beliebt. Aber bei wem? Ganz klar: Bei allen, die sich ungeniert bei uns bedienen, die davon profitieren, dass wir nicht nein sagen können und für ein bisschen Anerkennung unsere eigenen Interessen preisgeben.
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt
Langfristig gesehen ist die Hinnahme solcher Grenzverletzungen jedoch kein Gewinn. Im Gegenteil: Sie schlägt seelische Wunden, sie macht krank. Niemand erträgt es auf Dauer schadlos, sich permanent überrumpelt, ausgenutzt, aufgeopfert, für dumm verkauft, wehrlos und zum Hampelmann degradiert zu fühlen. Wie schwerwiegend das Problem ist, zeigt die wachsende Zahl psychischer Erkrankungen, die unmittelbar in mangelnder Abgrenzung und unzureichender Selbstfürsorge wurzeln. Nicht ohne Grund gelten gestörte oder nicht ausbalancierte emotionale Grenzen seit langem als eine Hauptursache der zunehmenden Ängste, Depressionen, Schlafstörungen und Burnout-Erkrankungen in modernen Leistungsgesellschaften.
No, no, no, it ain't me Babe!
Die Kunst der heilsamen Abwehr ist nicht nur im Beruf gefordert. Die Bereitschaft "nein" zu sagen, sich abzugrenzen, auf die eigene innere Stimme hören, nichts geschehen zu lassen, was wir innerlich ablehnen, dem inneren Alarm zu vertrauen, ist ein elementarer Akt der Selbstbehauptung und des Selbstschutzes. Wir brauchen diese Bereitschaft ständig, auch in ganz banalen, alltäglichen Situationen. Wir brauchen sie, wenn wir drauf und dran sind, überflüssigen Kram zu kaufen, um die nette Verkäuferin nicht zu enttäuschen; wenn wir Dummheiten mitmachen, nur um nicht als Spaßbremse oder Miesmacher dazustehen; wenn uns das zeitgeistige Leitbild permanenter Selbstoptimierung in die Überforderung treibt; wenn uns mediale Rollenangebote ein vorgefertigtes Selbstbild aufschwätzen wollen; wenn uns Partner oder Freunde nötigen, um des Dabeiseins willen gegen eigene Bedürfnisse und Wünsche zu handeln.