Das Thema Krankheit als Sprache der Seele
Schätzungsweise jeder zehnte Deutsche leidet laut einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums an Erkrankungen, die sich körperlich nicht nachweisen lassen. Beim Herzangstsyndrom klagen Patienten beispielsweise über panikartige Angstzustände mit Herzschmerzen, doch ihr Herz ist gesund. Bei funktionellen Magen-Darmbeschwerden leiden sie unter Druckschmerz und Sodbrennen oder schmerzhaftem, unregelmäßigen Stuhlgang, doch medizinisch ist alles in Ordnung.
Beim chronischen Müdigkeitssyndrom sind die Betroffenen seit Monaten müde und schlapp, haben Fieber, Hals- Kopf-, und Gelenkschmerzen, doch alle messbaren Daten sind einwandfrei. Oft haben diese Patienten regelrechte Arzt-Odysseen hinter sich, um Krankheitsursachen im Körper zu finden. Doch nichts ist zu finden. Helfen können hier psychosomatisch geschulte Ärzte und Psychotherapeuten. Denn egal ob Kopfschmerzen, Tinnitus, Asthma oder chronisch entzündliche Magen-Darm-Erkrankungen – die psychosomatische Medizin interpretiert einen Krankheitsverlauf auch auf einer seelischen Ebene. Bandscheibenprobleme können beispielsweise durch bewusste und unbewusste geistig-seelische Überlastungen entstehen. Ein Schnupfen kann bedeuten, dass man von einer Situation im wahrsten Sinne des Wortes "die Nase voll hat". Und auch hinter einer entzündeten, schmerzenden Blase kann eine aus Angst oder Trauer drückende Psyche stecken.
Seelische Ursachen
Die Psychosomatik, die in Deutschland als medizinisches Fachgebiet etabliert und institutionalisiert ist, weiß, dass viele Krankheitsbilder auch seelische Ursachen haben können. Sie geht davon aus, dass genetische Veranlagung, organische Prozesse im Körper und individuelle Beziehungserfahrungen sich ständig gegenseitig beeinflussen. Die Bundesärztekammer definiert sie als eine Medizin für „Krankheiten und Leidenszustände, an deren Verursachung psychosoziale und psychosomatische Faktoren einschließlich dadurch bedingter körperlich-seelischer Wechselwirkungen maßgeblich beteiligt sind“.
Psychosomatik leitet sich aus den griechischen Wörtern "psyche" (Atem, Seele) und "soma" (Körper) ab. Bereits der griechische Arzt Hippokrates soll psychosomatisch behandelt haben: So heilte er beispielsweise den schwindsüchtigen Makedonierkönig Perdikkas von seiner Schwindsucht, indem er dessen Liebeskummer behandelte. Die Grundlage für das heutige medizinische Fachgebiet der Psychosomatik wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegt: Psychoanalyse und Tiefenpsychologie ermöglichten mit dem Konzept des Unbewussten eine neue Sicht auf Krankheiten. Sigmund Freud entdeckte ein Phänomen, das er „Konversionsstörung“ nannte. Konversion bedeutet, dass sich starke Gefühle, wenn sie nicht zugelassen oder ausgelebt werden können, in körperlichen Störungen äußern.
Nicht immer ist die Psyche schuld
Bis in die 1970-er Jahre hinein nahm man an, bestimmte seelische Konflikte führten zwangsläufig zu körperlichen Krankheiten. Insbesondere für sieben Erkrankungen wurde die Seele verantwortlich gemacht: Asthma, Neurodermitis, Magengeschwür, Bluthochdruck, Magersucht, Schilddrüsenüberfunktion und chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Doch inzwischen geht man nicht mehr davon aus, dass all diese Krankheiten rein psychogen sind, sprich: von der Seele ausgelöst werden. Für die Entstehung vieler Magengeschwüre gibt es längst eine plausible äußere Erklärung: Meist ist der Keim Helicobacter pylori daran Schuld und kann mit Antibiotika – ganz ohne Psychotherapie – bekämpft werden. Auch ist es sehr umstritten, etwa von einer Herzinfarkt- oder Krebspersönlichkeit zu sprechen.
Psychotherapie als Hilfe
Die Behandlungsform der modernen, medizinischen Psychosomatik ist die Psychotherapie. Diese kann ambulant oder stationär, in speziellen Facheinrichtungen erfolgen. Psychosomatisch ausgebildete Ärzte und Psychotherapeuten verstehen Krankheit als ein sinnvolles Geschehen, durch das die Seele ungelöste Konflikte ins Bewusstsein bringt. Derartige Grundkonflikte sind etwa der Wunsch nach Versorgung und die Angst vor Abhängigkeit, der Wunsch nach Selbstständigkeit und die Angst vor Kontrollverlust, der Wunsch nach Liebe und die Angst vor Ablehnung.
Die moderne Stressforschung hat gezeigt: Wenn sich die Seele aufregt, reagiert innerhalb von Sekundenbruchteilen das autonome Nervensystem, das für Herzkreislauf, Magendarmtrakt und Atmung zuständig ist. Psyche und Körper sind untrennbar miteinander verbunden. Prinzipiell ist Stress eine natürliche, schützende Reaktion des Körpers: Alles wird für den Ausnahmezustand mobilisiert, um sofort fliehen oder kämpfen zu können. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schlägt das Herz schneller, Adrenalin wird ausgeschüttet, Zucker schießt ins Blut, und das Blut wird in die Beine gepumpt. Doch es geschieht nicht nur, wenn uns ein Löwe angreift, sondern auch, wenn wir uns mit dem Liebsten streiten, Höchstleistung im Job vollbringen oder einen spannenden Film anschauen. Normalerweise verschwinden die Körperreaktionen wieder, wenn das stressige Ereignis vorbei ist. Doch bei unbewussten Konflikten reagiert der Körper, ohne dass dem Betroffenen notwendigerweise klar ist, das er innerlich angespannt ist. Sein Körper kann auf den inneren Ausnahmezustand mit dauerhaften Krankheitssymptomen reagieren.
Die Symbole verstehen
Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von psychosomatischer Beschwerden und Krankheiten. Zum einen Erkrankungen, die nicht organisch nachweisbar sind, so genannte funktionelle Beschwerden oder Somatisierungsstörungen (zum Beispiel Magen- und Kopfschmerzen, Schlaf- und Verdauungsprobleme). Zum anderen solche Erkrankungen, bei denen auch körperliche Veränderungen festgestellt werden (zum Beispiel Asthma, Bluthochdruck, chronisch entzündliche Darmerkrankungen). Bei der zweiten Gruppe von Krankheiten werden die organischen Probleme mitbehandelt. Doch für beide Arten psychosomatischer Erkrankungen gilt: Während einer Psychotherapie lernen die Betroffenen, den hinter den Beschwerden liegenden Konflikt zu verstehen und benennen zu können. Denn die meisten psychosomatischen Patienten haben für innere Spannungen kein Gefühl oder für Konflikte und Probleme keine Worte, sondern drücken sie über das Körpersymptom aus. Ärzte und Therapeuten helfen, auch die symbolischen Bedeutungen von Krankheitssymptomen zu erfassen, also die Botschaft der Krankheit zu entschlüsseln.