Das Rätsel um Judas Iskariot Das Thema
Von Judas Iskariot erfahren wir im Neuen Testament recht wenig. Seine Berufung wird nicht direkt berichtet. Allerdings gibt es in den drei synoptischen Evangelien Apostellisten, in denen die Namen der Zwölf aufgezählt werden. Jedesmal wird Judas als Letzter genannt, und jedes Mal steht der Zusatz dabei, dass dieser Jesus verraten wird. Diese Tat prägt das Bild des Apostels Judas seit 2000 Jahren.
Der Verrat an Jesus wurde und wird als derart schimpflich empfunden, dass man Judas mitunter in einem Atemzug mit Hitler und Stalin nennt und zusammen mit diesen in der Hölle wähnt. In der Bibel wird lediglich berichtet, dass Judas Jesus an die Hohenpriester verriet, die diesen als unbequemen Mahner ausschalten wollten. Später bereute Judas seine Tat und gab seinen Verräterlohn zurück. Über sein Ende gibt es widersprüchliche Aussagen. Einmal erhängt er sich, einmal bricht sein Leib auf. In beiden Versionen jedoch geht es um ein Grundstück, das von dem Verräterlohn erworben wurde. Später wurde die Lücke, die Judas in der Zwölfzahl der Apostel hinterließ, durch die Nachwahl des Matthias aufgefüllt (Apg 1, 15-26).
Vom fanatischen Anhänger zum Verräter
Judas war vermutlich ein strenggläubiger, ja fanatischer Jude. Als solcher schloss er sich Jesus an und hoffte, seine Ziele so besser verwirklichen zu können. Der Mensch Judas Jesus berief Judas in seine Apostelschar. Möglicherweise war er ein leidenschaftlicher Mensch, der darauf brannte, dass sich die politischen und religiösen Verhältnisse seiner Zeit zum Besseren wendeten. Möglicherweise war er auf die Dauer mit dem friedfertigen Jesus unzufrieden, dessen Botschaft vom Reich Gottes keine sofortige revolutionäre Wirkung zeigte. Judas wollte mit einer verzweifelten Tat den Umsturz forcieren und ließ sich deshalb zum Verrat an seinem Lehrmeister hinreißen.
Rotes Haar, krumme Nase - Judas in Gemälden
Über den Menschen Judas ist wenig bekannt. Auf vielen bildlichen Darstellungen wird er mit roten Haaren und einer auffällig krummen Nase gezeichnet. Diese Vorstellung entspringt jedoch reinen Spekulationen. Aus der Zeit Jesu gibt es weder von Jesus selbst noch von seinen Aposteln bildliche, portraithafte Darstellungen. Vielleicht haben sich hier Vorurteile oder unterbewusste Erfahrungen manifestiert, die rothaarigen Menschen evtl. besondere Leidenschaftlichkeit bis hin zu Unbeherrschtheit und Unzuverlässigkeit zuschreiben. Dieses Vorurteil wurde später auch den Hexen zum Verhängnis, die oft mit roten Haaren in Verbindung gebracht wurden.
Jedenfalls würde diese Darstellung das Misstrauen unterstreichen, das man dem von leidenschaftlichem Eifer besessenen Judas entgegenbringt. Auch die hässliche Nase auf vielen Abbildungen, beispielsweise auf Leonardo da Vincis berühmtem "Letzten Abendmahl" dient als äußeres Kennzeichen der Besessenheit von einem bösen Dämon. Jedenfalls lässt sich durch diese Merkmale auf Abbildungen Judas von den anderen Aposteln unterscheiden, wenn er nicht gerade den Geldbeutel mit dem Verräterlohn in Händen hält.
Wilde Spekulationen über den Namen "Judas Iskariot"
Auch über den Namen des Judas gibt es wilde Spekulationen. So führte die klangliche Ähnlichkeit des Wortes Judas mit dem Wort Juden dazu, einem ganzen Volk Heimtücke, Verräterschaft und Habgier anzudichten. Es war in gewissen Zeiten bequem, Judas als den typischen Juden hinzustellen, und dadurch ein ganzes Volk als unwürdig abzustempeln. Die Bedeutung des Beinamens Iskariot ist ebenfalls ungeklärt. Entweder weist er einfach auf die Herkunft „aus Kariot“ hin, oder es ist die Bezeichnung für einen gewaltbereiten, mit einem Messer bewaffneten Autonomen, der nur auf eine günstige Gelegenheit wartet, um seine Ziele ohne Rücksicht auf Verluste zu verfolgen. Auch wenn diese Interpretation auf Judas zu passen scheint, bleibt es doch fraglich, ob Jesus einen solchen Mann in seinen engsten Freundeskreis berufen würde. Bis heute jedoch ist der Name Judas zum Schimpfwort geworden, mit dem man (käufliche) Verräter bezeichnet.
Das Judas-Evangelium
Als 1978 eine frühchristliche Handschrift entdeckt wurde, in der dem Judas eine besondere Rolle zukommt, glaubte man zunächst, die christliche Sicht auf Judas und die Erlösung durch Jesus Christus müsse revidiert werden. Doch bald stellte sich heraus, dass das sogenannte Judas-Evangelium im Umkreis der Gnosis entstanden war. Die Gnosis war eine dem frühen Christentum sehr gefährliche Irrlehre, die von einem Dualismus von Gott und Welt ausgeht und den Menschen durch Erkenntnis (griechisch = gnosis!) des wahren Gottes sich selbst erlösen lässt. Das Gottes- und Jesusbild, das im Judas-Evangelium gezeichnet wird, passt nicht zur Theologie der anderen, kanonischen Schriften des Neues Testamentes.
Deshalb wurde dieser Text wie mancher andere in einem lang dauernden Prozess als nichtchristlich erkannt und von der Heiligen Schrift ausgeschlossen. Verständlicherweise wurde auch die Überlieferung dieses apokryphen Textes vernachlässigt und es ist einem Zufall zu verdanken, dass ein Exemplar in der jüngsten Neuzeit wiederentdeckt wurde.
Eine Theologie des Judas?
Es ist wohl nicht notwendig, heute über eine neue Theologie des Judas nachzudenken. Andererseits ist es angebracht, über die Rolle, die Judas in der Heilsgeschichte spielt, noch einmal nachzudenken. Kein Mensch ist unfehlbar. Auch Petrus, der erste Papst in der Kirchengeschichte, hat Jesus dreimal verleugnet. Und Jesus ist einer, der nach seiner eigenen Lehre immer wieder verzeiht, wenn ein Übeltäter ehrlich bereut. Was ist denn der Wunsch, den Verräterlohn zurückzugeben, anderes als der freilich erfolglose, weil zu späte Versuch, die Tat ungeschehen zu machen? Der Evangelist Matthäus sagt (Mt 27,3), dass ihn seine Tat reute. Auch wenn ihn diese Reue allein noch nicht rehabilitiert, dürfen wir Menschen uns doch nicht zu Richtern des Judas aufspielen. Letztlich bleibt dieses Amt nur Gott vorbehalten.