"Wo warst du Gott?"
Religion | RS, Gy |
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Gewalt, Krieg, Krankheit, Schmerzen, Leid und Not. Warum lässt Gott das zu? Will oder kann er nicht anders? Die quälende Frage nach der Güte und Gerechtigkeit des Schöpfers ist eine Operation am offenen Herzen des Christentums.
Gesehen hat ihn noch niemand. Trotzdem wissen wir haargenau, wie Gott ist: Allmächtig, vollkommen, der Inbegriff des Guten schlechthin. Und damit sitzen wir in der Falle: Wie kann ein unendlich guter, liebender Gott eine Welt voller Elend, Leid und Not verantworten? Warum lässt er Seuchen, Brände, Bergstürze, Überschwemmungen und Dürrekatastrophen zu? Warum dürfen Menschen so grausam gegen Menschen wüten, warum macht er dem Morden kein Ende? Ist IHM dort oben egal, was hier unten so schrecklich schief läuft? Kann oder will ER nicht helfen?
Oder ist Gott gar nicht so gut, so allmächtig, so allwissend, wie wir gerne glauben? Hat er gepfuscht und womöglich die Kontrolle über sein Experiment verloren? Ist er seiner widerspenstigen, nutzlosen Laborratten inzwischen überdrüssig geworden? Oder ist alles noch einmal ganz anders: Kann es sein, dass Gott nur ein sadistischer Spieler, ein kosmischer Spaßvogel ist, der sich scheckig lacht über die Schreie, Klagen und Seufzer, die unerhörten Gebete, Bitten, Beschwörungen und Hilferufe von unten?
Vom Rechten und Hadern mit Gott
An der Gerechtigkeit und Güte Gottes, an seinem Wesen und Wollen scheuern sich Christen seit jeher wund. Sie reiben sich am schreienden Widerspruch zwischen dem Leid der Welt und jenen Eigenschaften, die untrennbar zum Wesen Gottes gehören: Machtfülle, Weisheit, Güte, Vollkommenheit. Aber diese Attribute passen nicht zum Wesen und Zustand seiner Schöpfung. Zumindest werfen sie die Frage auf, warum das Leid ein Teil der Schöpfung ist und sein darf.
Unter den Tisch kehren, vertuschen oder einfach leugnen lässt sich der Widerspruch nicht. Daher versenken sich Theologen und Philosophen aller Zeiten in die Rätselhaftigkeit Gottes, um das scheinbar Krumme wieder grade zu rücken. Mit naiver Frömmigkeit und filigraner Betrachtung, mit raffinierten Spitzfindigkeiten, kühnen Spekulationen und rhetorischen Klimmzügen versuchen sie, das Leid der Welt als Preis der menschlichen Freiheit, als Prüfung, Erziehungsmaßnahme, Strafaktion oder Tugendansporn zu erklären.
Ijob und die Schrecknisse Gottes
Das meistverschriebene Mittel gegen Zweifel jedweder Art ist über Jahrhunderte hin die Geschichte von Ijob: Der treue Gottesknecht des Alten Testaments lädt keine Schuld auf sich, wird aber dennoch vom Herrn geprüft und geschlagen. Schließlich bricht er unter dem Übermaß der Leiden zusammen. Ijob hadert und klagt, verzagt und verzweifelt. Zuletzt aber sieht er, was jeder Mensch einsehen muss: Ijob erkennt die schreckliche Majestät eines unüberbietbar großen Gottes, dessen Herrlichkeit jedes Maß und Verstehen übersteigt. Dieser gewaltige Gott ist so erhaben, dass er seinen Geschöpfen keine Rechenschaft schuldet. Angesichts seiner unermesslichen Heiligkeit sind Demut, Gehorsam und unbedingte Treue auch im Leid die einzig angemessene Haltung des Menschen.
Sichtbare Not, unsichtbarer Plan
Das "Modell Ijob" lehrt die Antwort des Glaubens: Gott fürchten bedeutet, seine unantastbare Heiligkeit anzuerkennen, seinen unbedingten Willen gut zu heißen und die Unergründlichkeit seiner Wege fraglos hinzunehmen. Damit ist es an der Schwelle zur Aufklärung nicht länger getan. Das Zeitalter der Vernunft will den Zweifel nicht übertünchen, sondern rational bewältigen. Weil der Glaube fortan den Anforderungen des kritischen Verstandes genügen muss, darf die christliche Offenbarung kein widervernünftiges Element enthalten.
Leibniz und die beste aller Welten
Doch wie lässt sich die Annahme einer guten, zweckmäßigen Schöpfung rational mit dem Bösen und dem Leid in der Welt versöhnen? Als gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer mehr gärende Köpfe behaupten, die Vorstellung eines gütigen Weltenbauers sei nur durch die Preisgabe der Vernunft und die Aufopferung des Verstandes zu retten, tritt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) an, das Gegenteil zu beweisen. Gott, so argumentiert der Universalgelehrte, hätte selbstverständlich auch eine unendliche Zahl anderer Welten erschaffen können. Da er jedoch die höchste Weisheit, Vernunft, Gerechtigkeit, Güte und Heiligkeit in sich vereinigt, kann logischer Weise auch die tatsächlich geschaffene Welt nichts anderes als die beste aller möglichen Welten sein. Dass diese Welt nicht vollkommen ist, widerspricht der Vollkommenheit ihres Urhebers jedoch in keiner Weise. Denn vollkommen ist einzig Gott alleine. Die Welt kann es gar nicht sein, da sie nicht mit dem personalen Schöpfer identisch ist. Das Leid in dieser notwendig unvollkommenen Welt wiederum ist kein Teil des Schöpfungsaktes, sondern eine unvermeidliche Folge der menschlichen Wahlfreiheit zwischen dem Guten und dem Bösen. Um dieser gewollten Freiheit willen, lässt Gott das ungewollte Leiden lediglich zu. Alle Übel, die nicht durch die sündhafte Abkehr von Gott, sondern durch das Walten der Natur verursacht sind, sind einer unabdingbaren Notwendigkeit geschuldet, die der Mensch in seiner beschränkten Sichtweise nicht hinreichend erfassen kann.
Vom Richterstuhl auf die Anklagebank
Fürs Erste ist Gott damit aus dem Schneider. Aber nicht für lange. Der einmal angezettelte Prozess gegen einen Schöpfer, der seine Welt dem Leiden aussetzt, ist nicht mehr zu stoppen. Er wird zunehmend härter, erbitterter geführt. Und je länger er läuft, desto unversöhnlicher plädieren die Ankläger, desto unwahrscheinlicher wird ein Freispruch à la Leibniz. Denker und Dichter der folgenden Generationen, wortgewaltige und leidenschaftlich diesseitige Geister wie Feuerbach, Büchner, Marx, Nietzsche und Freud schleifen ein Jahrtausende altes Tabu: Sie zerren den einst unfehlbaren, unberührbar großen Gott vom Richterstuhl der Ewigkeit auf die irdische Anklagebank. Und das Fragen wird immer bohrender, immer dringlicher: Wo bist du, Gott, angesichts der Leiden deiner Welt? Warum greifst du nicht ein, wenn das Böse triumphiert?
Leidend, hilflos, mitgefangen - Gottesdeutungen
Die namenlosen Schrecken des 20. Jahrhunderts zerstören das traditionelle Bild des allgütigen, allmächtigen, allweisen Gottes ein für alle Mal. Es verbrennt in den Feueröfen von Auschwitz, krepiert auf den Schlachtfeldern zweier Weltkriege, verdampft im atomaren Inferno von Hiroshima und Nagasaki. Für viele Gläubige, für fromme Juden und nicht minder fromme Christen gibt es angesichts dieser Katastrophen nur noch einen Schluss: Ein Gott, der solche Gräuel zulässt, ist entweder sadistisch, launisch, bösartig, heimtückisch oder schlicht und einfach eine Illusion. Wer diesen Weg der radikalen Abkehr nicht gehen möchte und nicht gehen kann, hat letztlich nur eine Chance: Den Glauben an einen leidenden, mitleidenden, trauernden Gott. Den Glauben an einen Gott, der in seiner Menschwerdung das Leid nicht aufhebt, sondern mit uns trägt, der die gefallene Schöpfung nicht einfach ein zweites Mal auslöscht und stattdessen den für beide Seiten mühevollen, langsamen Weg der Heilung wählt.
Erfahrungswirklichkeit und Gedankengymnastik
Ob man nun das Nichthandeln Gottes als erbarmendes Mitleiden, als Solidarität mit den Geschundenen und Ohnmächtigen interpretiert oder als freiwilligen Verzicht auf seine Allmacht versteht, ein Problem bleibt immer: Gott ist keine sichtbare, greifbare, objektiv feststellbare Tatsache. Gott ist ein Wunsch, ein Gedanke, ein Konstrukt, eine Überzeugung, eine subjektive Glaubenswahrheit. Was wir über Gott wissen, ist das Resultat Jahrtausende alter Spekulationen, Gedanken, Meinungen und Vorstellungen. Das Leid in der Welt hingegen ist sehr konkret. Es ist mit Händen zu greifen, mit allen Sinnen erfahrbar. Es ist zu hören, zu sehen, zu riechen, zu spüren. Und es ist allgegenwärtig. Mit theologischer und philosophischer Gedankengymnastik kommt man gegen die Realität dieses Leidens nicht an. Dazu braucht es eine andere Gewissheit: Die gläubige Erfahrung der lebendigen Gegenwart Gottes. Eines Gottes, der es trotz allem, was scheinbar gegen ihn spricht, unendlich gut mit uns meint.