Ende der Welt - Die tägliche Glosse Megatrend Kuschelherbst?
Angeblich steht uns ein Herbst der neuen Innerlichkeit, des sozialen Einigelns allein oder in kleinen Gruppen bevor. Wirklich? Hatten nicht vor allem junge Menschen, speziell umweltbewegte, zuletzt ein geradezu adhäsives Verhältnis zur Straße und zum öffentlichen Protest entwickelt? Kaum zu glauben, was Trendforscher sagen, dass uns nun die Synthetikkuscheldecke im trauten Heim näher sein soll als der wetterfeste Parka in freier Wildbahn, dass die dampfende Teetasse vor dem virtuellen Kaminfeuer jedes Outdoor-Event schlägt… Eine Glosse von Heinz Gorr.
"Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß…" Jeder kennt den Anfang dieses vielleicht berühmtesten Herbstgedichts. Der Durst ist gestillt, mit rund sieben Millionen Maß, aber was jetzt? Wie sollen wir diese dräuend triste Zeit bis zum Advent und dem Hochfest des deutschen Einzelhandels durchstehen? Frei nach Rilke: Wer jetzt keinen Instagram-Account hat, legt sich keinen mehr zu…
Jüngere Leute haben auf dieser schweren Etappe immerhin noch eine geistig-emotionale Verpflegungsstation mit dem säkularen Feiertag Halloween. Aus gut informierten Kreisen von Eltern, die den Finger stets am Puls ihres Nachwuchses haben, wurde mir von dem Megatrend "Herbst" berichtet: es sei abolut in, sich mit Heißgetränken zu Hause einzukuscheln, die raue, unwirtliche Jahreszeit draußen zu lassen und Unvermeidliches wie den Erwerb von Kürbissen für besagten Monatsultimo an die Frau Mama zu delegieren.
Erleben wir also gerade die Gegenrevolution zur Fridays-for-Future-Jugend, die sich mehr ums Überleben des Planeten als um die staatliche Schulpflicht kümmert? Ist es das Ende jeder abgewetterten street credibility? Eine Art Romantik 4.0? Nein, es gibt kein Zurück zu den "Feuilles mortes" aus Opas Plattenschrank! Viel zu viel Moll-Morbidezza steckt in solch alten Chansons, wo der Nordwind die toten Blätter in die kalte Nacht des Vergessens fortträgt. Das erledigen heute völlig unpoetische Laubbläser.
Die Sehnsucht nach "wirklicher Empathie, ehrlicher Kommunikation und authentischem Kontakt"
Trendforschende versichern uns jedenfalls einer "neuen Heimeligkeit", einer Lagerfeuermentalität light. Was im Deutschen altbacken, biedermeierlich daherkommt, also die Sehnsucht nach "wirklicher Empathie, ehrlicher Kommunikation und authentischem Kontakt" in ungezwungenem Ambiente, kann nicht anstinken gegen den trendy sound von "Social Cocooning": das "Zusammentreffen von Menschen in entspannender Wohnzimmeratmosphäre".
Sollten Sie von zweifelnden Zeitgenossen gefragt werden, ob denn die Pandemie mit Lockdowns und Ausgangssperren nicht genug erzwungene Häuslichkeit gebracht hätte, ob Sie das Wirtshaussterben einfach so hinnehmen und dem allerletzten kleinen Kino den Todesstoß versetzen wollen, können Sie ganz cool kontern: "Alles JOMO", klar, das ist das Kürzel für "The Joy Of Missing Out“, dass immer mehr Menschen jeglichen Alters mit Freude das Risiko eingehen, ein tolles Event zu verpassen, um stattdessen die Zeit beschaulich zu verbringen. Sollte sich das durchsetzen, hätte ich für derlei Trendsetter nur noch einen alten Sponti-Spruch parat: "Heute schon gelebt?".