Bayern 2 - Die Welt am Morgen







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Ende der Welt - Die tägliche Glosse Schätzungsweise

Sind Sie gerade mit der Bahn unterwegs? Oder wären es gerne und warten mal wieder auf Ihren Zug? Haben Sie noch knapp drei Minuten? Sind Sie schon sauer? Dann ein paar Gedanken, um im Bahnjargon zu bleiben, zur Umleitung. Eine Glosse von Ralf Thume.

Von: Ralf Thume

Stand: 20.08.2024 |Bildnachweis

„Immer ist in uns ein Hauch von Traurigkeit auf kleinen Bahnhöfen, wo niemand wartet“: Von dem mährischen Dichter Jan Skácel stammt dieser schwermütig-schöne Vers. Dazu inspiriert wurde er sicherlich nicht in Deutschland, denn Skácel starb am 7. November 1989, also kurz vor der ganz großen neuen Weichenstellung zwischen Ost und West.

„Schon wieder ist in mir so ein Haufen Wut, weil ich warte und warten muss stundenlang mit hunderten anderen auf diesem elenden Bahnhof“: Das hätte Skácel vielleicht geschrieben, wenn er, sagen wir auf Lesereise von Großstadt zu Großstadt, doch noch hier zum Zug gekommen wäre.

Hätte er natürlich nicht, allein schon wegen des holprigen Versmaßes, aber verstehen kann man jeden, dem solche Gedanken durchs Hirn rasen. Wie stand’s grad erst wieder in der Zeitung? Die Deutsche Bahn schätzt ihre Fahrpläne nur noch?! Von Berechnen könne gar keine Rede mehr sein wegen der zwei bis drei Millionen Änderungen allein schon in diesem Jahr wegen all der Störungen und Verspätungen und Ausfälle wegen all der kaputten Schienen und Schaltpulte, die nur noch von Tesafilm zusammengehalten werden, und wegen der Weichen, die sich nur noch mit Stoßgebeten bewegen lassen. Das Fazit: Weil jahrelang mangelhaft gewartet wurde, sind alle Pläne zum leeren Versprechen geworden.

An uns selbst hätten wir schrauben müssen, nicht an der Infrastruktur

So. Das sitzt. Wenn‘s nur eine Gelegenheit dafür gäbe! Am besten in einem Zug. Aber nochmal ganz langsam: Weil jahrelang mangelhaft gewartet wurde, sind alle Pläne zum leeren Versprechen geworden. Klingelt’s? Nein, kein Zugsignal, aber so überhaupt, wenn man die Worte ein bisschen dreht und wendet im eigenen eingefahrenen Hirn? Wie sieht’s denn aus mit den Plänen, die wir mal großspurig entworfen hatten für uns selbst? Wo wären wir denn gern angekommen? Und wo sind wir jetzt?

Woran’s liegt? Vielleicht daran, dass wir mangelhaft gewartet haben. Und was grundsätzlich missverstanden haben: An uns selbst hätten wir schrauben müssen, nicht an der Infrastruktur. Nie haben wir richtig gewartet, wo wir grad waren. Immer war uns der Bahnhof zu mickrig. Nie halten wir’s mit uns selbst aus, so wie wir halt sind. Immer stehen wir vor einem eisernen Vorhang, wenn wir den obersten Stationsvorsteher um Auskunft fragen wollen. So wird die Bahn zum Modell fürs Leben. Und man selbst wird, wenn man alle Berechnungen fahren lässt, zu so was wie einem Schätzungsweisen. Vielleicht kommt noch was, vielleicht auch nicht. Egal. Hoffen wir bloß nicht auf den Schienenersatzverkehr.   







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