"Wo die Geister tanzen" Diese Autorin zeigt, wie vielfältig palästinensische Lebensrealitäten sind
Sie gibt migrierten Palästinensern ein Gesicht: Klug, witzig und mit dem Fingerspitzengefühl einer literarischen Diplomatin schreibt Joana Osman autofiktional die Fluchtgeschichte ihrer Familie auf und blickt empathisch auf den vielleicht größten politischen Konflikt unserer Zeit.
Die Familiengeschichte der Osmans liegt in einer alten Keksdose. Cousine Zeynep findet die Dose im Regal ihres verstorbenen Vaters in Istanbul, darin: seine Tagebücher. Ein Wunder, dass sie auftauchen, wo Zeynep doch nie aufräumt, schreibt Joana Osman. Was mit dem Fund der Keksdose beginnt, wird für die Autorin eine Spurensuchen nach ihren Wurzeln. Angeregt durch die Tagebücher geht sie der Frage nach: Wer waren meine Großeltern und Onkel, die in Palästina, im Libanon und der Türkei aufgewachsen sind? Und wie kam ihr Vater nach Deutschland, in die bayerische Kleinstadt, in der Joana Osman heute noch lebt?
In „Wo die Geister tanzen“, pickt Joana Osman die Krümel der Erinnerung aus der alten Keksdose, recherchiert vor Ort und erzählt eindrücklich die Fluchtgeschichte ihrer palästinensischen Familie. Fast beiläufig schlüsselt sie die großen Konfliktlinien der Israelis, Palästinenser und der Region auf. Damit gelingt ihr ein doppeltes Kunststück. Osman gibt ihrer palästinensischen Familie ein Gesicht und beschreibt eine kollektive Erfahrung, die über 700.000 Palästinenser auf der Flucht nach dem ersten arabisch-israelischem Krieg und der Staatsgründung Israels 1948 erleben. Gleichzeitig bietet sie einen zutiefst menschlichen Einblick in den Konflikt, der sich nicht an politisch-religiösem Streit, sondern einer humanistischen Perspektive bedient.
Jüdisch - Muslimische Nachbarschaft
Doch zurück zur Keksdose und zu den Tagebüchern, die in Jaffa in den 1930er Jahren beginnen. Damals war Jaffa noch die große Schwester von Tel Aviv, es stank am Hafen, das osmanische Reich war zwar schon untergegangen, doch die Spuren in den Prunkbauten nicht zu übersehen. Joana Osmans Großeltern sind frisch verheiratet, ihrem Opa Ahmed gehört ein Kino, durch die Einnahmen kann sich die Familie die berühmten Jaffa Orangen, die klebrige Süßspeise Knefe, und bald ein neues Haus leisten. Die jüdischen Nachbarn, das Ehepaar Jankowitsch aus Polen, sind gerade erst nach Palästina gezogen und suchen ihr Glück. Die Familien verstehen sich sprachlich kaum, die einen tischen abends Kartoffeln und Rote Beete auf, die anderen Hummus und Okra Schoten. Doch man mag sich, und ist sich einig, dass nichts den Geruch von frisch gewaschener Wäsche übertrifft.
Staatsgründung vs. Nakba – Dreh und Angelpunkt des Konfliktes
Als die Briten am Ende des zweiten Weltkrieges nach einem das größte Versagen ihrer Kolonialgeschichte das Mandatsgebiet Palästina verlassen, schippern mit den jüdischen Flüchtlingen gleichzeitig die Nachrichten aus den Konzentrationslagern in Europa über das Mittelmeer. Das Ehepaar Jankowitsch bricht zusammen. Die ganze Familie: vergast. Keiner hat überlebt. Wer anständige Leute wie die Jankowitch umbringt, ist ein Schuft, findet Großvater Ahmed und geht für sie beten.
Die Ereignisse überschlagen sich, die Vereinten Nationen erstellen einen Teilungsplan, ein Bürgerkrieg beginnt. Wenig später muss die Familie vor der zionistisch-paramilitärischen Haganah-Truppen aus Jaffa fliehen, auf ein wackliges Boot Richtung Beirut. Was für Juden 1948 die Unabhängigkeit ist, die große Erleichterung über den eigenen Staat und endlich Sicherheit vor Vertreibung und Tod, heißt bei den Palästinenser*innen „an-Nakba“, die Katastrophe. Es folgt ein Exodus, viele Palästinenser wurden vertrieben oder flohen, noch heute leben sie staatenlos in dritter, vierter Generation in Flüchtlingslagern in den arabischen Anrainerstaaten. Eine Schwierigkeit der Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung liegt noch heute darin, dass diese Flüchtlinge ein Recht auf Rückkehr fordern („The Right of Return“). Je nachdem, wen man fragt, haben die Palästinenser freiwillig ihr Land zurückgelassen, oder sind vertrieben worden, schreibt Joana Osman, und weiter: „Fragen Sie meine Familie, so ist die Antwort eindeutig, aber sie wird meist nicht mit Worten gegeben, sondern mit Tränen“.
Eine entwurzelte Familie
Für die Familie Osman beginnt eine Odyssee, immer mehr Kinder werden geboren, in ärmlichen Behausungen werden sie von Ratten gebissen, pinkeln blutigen Urin und haben permanent Hunger. Sie ziehen weiter in die Türkei, die junge Großmutter Sabiha verliert bei der Geburt ein Kind, stürzt in tiefe Depressionen. Großvater Ahmed zerrt die Familie ein ums andere Mal aus der Misere. So folgt man dem verzweigten Weg der Familienmitglieder und landet irgendwann in einer U-Bahn in München, wo sich Joana Osmans Eltern kennenlernen.
Autofiktion kann heilsam sein
Was hier erfunden und was die Wahrheit ist, das bleibt das Geheimnis Osmans. Die Autofiktion ermöglicht ihr, Autorin, Erzählerin und Protagonistin zugleich zu sein. „Ich kann nicht wissen, was meine Großeltern gefühlt, gedacht oder gesagt haben, als sie aus Palästina geflohen sind. Ich kann es mir nur herleiten aus der Art, wie meine Familie heute ist und wie sie heute reden und wie sie heute denken“, sagt Joana Osman im Gespräch. So beschreibt sie die Einstellung ihrer Familie gegenüber Juden und dem israelischen Staat anekdotisch, szenisch, Familienmitglieder werden zu Romanfiguren mit Eigenleben. Und doch zollt sie beiden Seiten Respekt und Verständnis. Man könnte das als unpolitisch und etwas feige deuten. Doch genau mit dieser großen Menschlichkeit schreibt Osman gegen versteinerte Narrative, Hass und Unverständnis auf allen Konfliktseiten an.
"Es wird viel zu wenig gesehen, dass sich Juden und Muslime oder Israelis und Palästinenser, mögen können"
Joana Osman.
Dies gelingt auch durch ihre geographische und zeitliche Distanz zum Geschehen: 1982 geboren, wächst Joana Osman mit dem schweren Erbe der Flucht auf. Und trotzdem oder gerade deswegen, sagt sie im Interview: „Ich lebe in eine Bubble, in der sich Israelis und Palästinenser mögen. Ich spreche bewusst sehr viel über diese Realität. Weil das viel zu wenig gesehen wird, dass sich Juden und Muslime oder Israelis und Palästinenser, dass die sich mögen können, dass die miteinander arbeiten können, dass die miteinander gemeinsam für Frieden demonstrieren können“. Damit diese Community wächst, hat Joana Osman „die Peace Factory“, mitgegründet, eine Social Media Bewegung, die im Nahen- und Mittleren Osten Brücken schlagen will und etwa Israelis und Iraner*innen zusammenbringt. Gerade in der aktuellen Situation hilft das Buch, sich nicht nur ohnmächtig gegenüber den politisch-militärischen Ereignissen zu fühlen. Menschlichkeit und Zwischentöne geben Kraft.
Das richtige Buch, die richtige Stimme zur richtigen Zeit
Die Wucht und Gewalt des aktuellen Krieges in Israel und Gaza machen Joana Osman heute zu einer viel gefragten Stimme. Das große mediale Interesse an ihrem Roman spricht Bände über den deutschen Diskurs zu palästinensischen Menschen und ihren Geschichten. Dabei leben circa 200. 000 Palästinenser*innen in Deutschland, und es scheint absurd, dass erst Tagebücher in einer alten Keksdose in Istanbul auftauchen müssen, um diesen Menschen Gesichter zugeben. Joana Osman hat ein Buch geschrieben, das menschlich den Nah-Ost Konflikt skizziert. Sie hat ein Buch geschrieben, in dem die Kraft des Mitgefühls stärker ist als der Hass und die politische Verzweiflung. Sie hat ein Buch geschrieben, das einem deutschen Publikum eine palästinensische Lebensrealität zeigt, ohne dabei eine jüdische abzuwerten und Europa und die arabische Welt aus der Verantwortung zu ziehen. Empathie wird bekanntlich größer, wenn man sie teilt.
„Wo die Geister tanzen“ ist 2023 bei C. Bertelsmann erschienen und kostet 24,00 Euro.