„Die Lüge“ Diese Serie erzählt vom Schweigen über Gewalt an Frauen – und stürmt die Netflix-Charts
Die Miniserie „Die Lüge“ ist so spannend und düster, wie es sich für Thriller aus Schweden gehört – und voller Gesellschaftskritik. Die Serie erzählt von einer jungen Frau, die einen scheinbar perfekten Mann kennenlernt. Dann ist er tot.
Hinweis: Dieser Text thematisiert sexuelle Gewalt
Sommer in Südschweden, Lund. Stella Sandell ist 15 Jahre alt. Mit ihrer besten Freundin steigt sie in einen Bus. Sie fahren in ein Handball-Trainingscamp ans Meer. Dort lernt sie einen viel älteren Trainingsassistenten kennen, findet ihn toll. Alles wirkt idyllisch. Sie verabreden sich zum Baden an der steinigen Küste. Allein. Sie küssen sich, dann zwingt er sie zu mehr. Die neue Netflix-Serie „Die Lüge“ beginnt also mit einer Vergewaltigung.
Stella (Alexandra Karlsson Tyrefors) steht danach unter Schock und vertraut sich ihren Eltern an. Und die begehen einen ersten großen Fehler. „Hast du gesagt, dass du nicht willst?“, fragt die Mutter. Stella antwortet, das habe sie. „Wie hast du es gesagt?“, bohrt die Mutter nach. „Kann er es überhört haben? Hast du versucht, ihn wegzustoßen?“ Nein, hat sie nicht. „Hast du nichts getan, Stella?“
Die Mutter ist Juristin und überzeugt ihren Mann, die Vergewaltigung nicht anzuzeigen. Sie sagt: Ihrer Erfahrung nach würde Stella sowieso nicht geglaubt. „Es geht hier nicht um Moral, es geht um das Gesetz“, sagt sie ihrem Mann. Die Entscheidung, die Vergewaltigung zu verschweigen, fühlt sich in diesem Moment für die Eltern vernünftig an. Dabei wird sie noch weitreichende Folgen haben, die die Serie in vielen Schattierungen aufzeigt. „Die Lüge“ heißt sie auf Deutsch – auf Schwedisch: „Eine fast normale Familie“. Vorlage ist ein Thriller-Bestseller von Mattias Edvardsson.
Vier Jahre später: Ist nun alles gut in „Die Lüge“?
Nach dem düsteren Anfang macht die Serie einen Zeitsprung: Stella ist jetzt 19 Jahre alt und es wirkt erst so, als wäre alles wieder in Ordnung. Sie arbeitet in einer Bäckerei, spart auf eine große Reise und geht viel aus. Während einer Clubnacht spricht sie selbstbewusst den 32-jährigen Chris an. Die beiden beginnen eine Affäre. Für kurze Zeit wirkt es wie das große Glück. Und Chris wie der perfekte Boyfriend.
Doch dann ist Chris tot. Stella landet in Untersuchungshaft. Der Vorwurf lautet: Mord. Die vermeintlich perfekte Familie von Stella beginnt auseinanderzubrechen. Stellas Eltern lassen Beweise verschwinden, Stellas Vater verprügelt ihren Vergewaltiger von damals, ihre Mutter dringt in das Büro der Staatsanwältin ein und beginnt selbst zu ermitteln. Die Eltern stehen kurz davor, sich zu trennen und verlieren die Fassung. „Wir flüchten vor Stella“, bricht es bei einem Ehestreit aus dem Vater heraus. „Die ganze Zeit, seit der Vergewaltigung. Wir haben sie verraten. Wir haben sie im Stich gelassen, als sie uns am meisten gebraucht hat.“ Was die Eltern einholt: ihr Schweigen. Das Verdrängen der Vergewaltigung von damals.
Immer mehr Details kommen ans Licht. In Flashbacks erzählen die sechs Folgen der Serie von Stellas Beziehung zu Chris, der Beziehung der Eltern zu ihr und zueinander, der Tatnacht aus unterschiedlichen Perspektiven. Gegen Ende der Serie wird der Spannungsbogen immer steiler: Nach jedem gelüfteten Geheimnis glaubt oder misstraut man beim Zuschauen einer anderen Figur.
„Die Lüge“ konfrontiert einen mit eigenen Vorannahmen
„Die Lüge“ konfrontiert einen mit den eigenen Prägungen zum Thema Vergewaltigung, Geschlechterrollen, Schuld und Unschuld. Zum Beispiel dann, als Stella in einer Schublade ihres Freundes Medikamente findet. Wofür braucht er die? Oder als seine Ex-Freundin auftaucht und mit Stella reden will. Hat Chris ihr Schlimmes angetan? Oder ist sie das Problem?
Für Stella beginnt ein Wendepunkt, als sie sich der Gefängnispsychologin öffnet. Und ihr erzählt, was passiert ist, als sie 15 war. „Sie hatten Angst und ihr Körper hat reagiert“, erklärt die Psychologin. Stella sei in eine Schockstarre verfallen, die sie völlig gelähmt habe. „Das gibt dem Täter aber nicht das Recht, das zu tun, was er getan hat“, so die Psychologin weiter. Auch dass ihre Eltern sich entschieden hätten, nicht zur Polizei zu gehen und die Auswirkungen auf ihre Familie, sei nicht im Ansatz Ihr Fehler. „Sie waren ein Kind, Stella. Nichts war ihr Fehler.“ Ob sie das laut sagen könne, fragt sie Stella. Die Worte kommen ihr kaum über die Lippen: „Es war nicht mein Fehler.“
„Die Lüge“ ist eine feministische Serie
Wegen Momenten wie diesem ist „Die Lüge“ eine feministische Serie, die daran erinnert, dass Vergewaltigungen auch in einem gleichberechtigten Land wie Schweden häufig nicht zur Anzeige gebracht, verfolgt oder verurteilt werden. „Nur fünf Prozent aller Vergewaltiger werden rechtmäßig verurteilt. Wussten Sie das?“, fragt Stella voller Wut und Verzweiflung in einer Szene. In der Miniserie geht es um das Schweigen über Gewalt an Frauen. Darum, was diese Stille mit Opfern macht und wie sie Leben zerstören kann. „Die Lüge“ erzählt also von den Folgen sexueller Gewalt – für eine Frau, ihre Familie und die Gesellschaft.
Gleichzeitig ist „Die Lüge“ aber auch einfach eine packend erzählte Geschichte, die süchtig macht. Eine Serie, die man in einem Uni-Seminar auseinandernehmen könnte – und die trotzdem Binge-Watching-Potenzial hat. Denn sie verbindet spannendes Storytelling mit kritischer Gesellschaftsanalyse. Eine äußerst wirkmächtige Nachhilfestunde in Consent und Gewalt gegen Frauen.
„Die Lüge” (Originaltitel: „En helt vanlig familj“ – „A Nearly Normal Family“) mit Alex Karlsson Tyrefors, Lo Kauppi, Björn Bengtsson u. a. Regie: Per Hanefjord. Schweden 2023. Die sechs Folgen der Miniserie sind bei Netflix zu sehen. Trailer hier.