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Im Zug wie im Flug Die neue Relativitätstheorie des Bahnreisens zwischen München und Berlin

1835 fuhr der erste Zug Deutschlands – der legendäre Adler – in rund 15 Minuten von Nürnberg nach Fürth. Heute will es der Zug mit dem Flugzeug aufnehmen. Der ICE braucht von München nach Berlin keine vier Stunden mehr.

Von: Matthias Rüd

Stand: 10.12.2017 | Archiv

ICE | Bild: Bayerischer Rundfunk

Ab Dezember schafft es der ICE auf neuer Strecke in unter vier Stunden von München nach Berlin. Von Nürnberg aus braucht er nicht einmal drei Stunden. Schnellstmöglich von A nach B – was macht das mit dem guten alten Bahngefühl? Die Zeit für Bayern reist ein letztes Mal klassisch von München nach Berlin. 375 Minuten beträgt die planmäßige Reisezeit.

Trotz Highspeed die Aussicht einfangen

Im ICE sind wir mit Landschaftsmaler Peter Angermann aus Pegnitz im oberfränkischen Landkreis Bayreuth unterwegs. Der Künstler malt grundsätzlich lieber mit Muße, hinter seiner Staffelei auf festem, unbeweglichen Grund. Doch nun sein Motiv von seinem Fensterplatz im ICE aus: Landschaften, die mehr und mehr Tempo aufnehmen – bis zu 300 Kilometer in der Stunde.

"Ich gucke ganz begeistert aus diesem riesen Fenster, das wir da haben. Ich möchte immer am Fenster sitzen, weil ich mir das gern angucke. Diese Oberleitungen im Vordergrund und die Masten, die immer wieder vorbeizischen und dann ein paar Schienen und dahinter dieser Steckerlaswald mit den Kiefern. Ach, da kommt eine Autobahn. Der ferne Hintergrund ist ja relativ ruhig. Das ist ja alles sehr träge und langsam. Wenn der Mond zum Beispiel zu sehen wäre, der fährt ja mit. Und im Vordergrund ist alles sehr jäh und abrupt, also die Masten, die peitschen hier vorbei und das ist eine Raumbeobachtung, die in der Malerei auch wichtig ist, dass also im Vordergrund die Kontraste so jäh sind und abrupt, auch die Gesten und je weiter weg, desto ruhiger. Das ist eine Dynamik in der Perspektive – und das kommt im Zug natürlich ganz gut. Das kann man gut beobachten."

Peter Angermann, Landschaftsmaler

Szenenwechsel im Sekundentakt – der ICE zwischen Ingolstadt und Nürnberg fährt schon lang im Neuzeitmodus, die Neubau-Strecke ist bereits seit dem Jahr 2006 in Betrieb.

"Der Preis von diesem tollen Fortschritt ist, dass wir in einer halben Stunde in Ingolstadt sind. Wenn's darauf ankommt, dass man schnell von A nach B kommt, da hat's früher nie so was tolles gegeben. Aber der Preis dafür ist, dass man die ganze Strecke dazwischen gar nicht mitkriegt. Am besten würde man sie mitkriegen, wenn man sie zu Fuß geht. Überhaupt: Fahrerlebnisse haben für mich eine große Rolle gespielt. Wie ich früher mit meinen Eltern im Auto hinten drin saß und die Straßen sich so gewunden haben durch die Landschaft, da kriegt man die Anatomie einer Landschaft erst mit, wenn's dann bergab und linksherum und am Wald vorbei geht. Diese Komposition. Man knetet sich richtig durch die Landschaft. Der Raum und die Anatomie, das wird dann erst ein Begriff, wenn man sich drin bewegt. Das ist im Zug auch so, auch wenn wir geradeaus, wie mit dem Lineal gezogen, durch die Landschaft zischen, aber das schafft so ein Raumempfinden, die Bewegung."

Peter Angermann, Landschaftsmaler

Nicht nur die Landschaft zischt vorbei, auch die Zeit. Eine knappe halbe Stunde nach der Abfahrt in Ingolstadt steht der Zug in Nürnberg.

"Die Indianer haben sich nach einem langen Ritt immer auf den Boden gelegt, um der Seele die Gelegenheit zu geben, nachzukommen. Das ist das, was uns heutzutage eher fremd ist. Aber ich kann das nachvollziehen."

Peter Angermann, Landschaftsmaler

Lichtenfels wird abgehängt – für die Geschwindigkeit

In 58 Minuten geht es schließlich von Nürnberg nach Lichtenfels in Oberfranken. Die Stadt kommt bescheidener daher als etwa Bamberg, hat keinen Grünen Hügel wie Bayreuth – aber dafür bisher einen Anschluss – einen ICE-Halt auf dem Weg nach Berlin. Der ist Geschichte – Lichtenfels wurde abgehängt für die Geschwindigkeit. Die Bahn hat ihre Strecke zigmal optimiert, dabei gab es auch Opfer – wie Lichtenfels.

"Mein Mann hat jahrelang in Berlin gearbeitet und wir haben das schon gerne genutzt. Am Wochenende hin und her zu fahren. Wir haben auch Freunde dort. Es war eigentlich immer schön, aber wenn man erst da hin muss und dort hin muss, dann setzt man sich doch lieber ins Auto und fährt mit dem Auto."

Gabriele Kraus, Wirtin des Bratwursthäusle in Lichtensfels

Lichtenfels verliert ein Stück Identität

Das Hauptthema bei Wirtin Gabriele Kraus und ihren Kunden im Bratwursthäusle in Lichtenfels: die gute alte Bahnzeit. Lichtenfels verliert nicht nur den Anschluss an die Metropolen Deutschlands, sondern auch ein Stück Identität, findet Bürgermeister Andreas Hügerich.

"Das ist ein richtig mieses Gefühl. Das merkst du in der Bevölkerung einfach. Also besonders bei uns in Lichtenfels. Unsere Stadt ist Eisenbahnerstadt. Früher war fast jeder dritte, vierte Lichtenfelser bei der Bahn beschäftigt. Wir haben Bahngebäude, wo die Leute gewohnt haben. Wir haben einen großen Rangierbahnhof gehabt und das ist dann alles so Stück für Stück immer weiter runtergegangen. Die Lichtenfelser sind stolz darauf, dass sie einen ICE-Halt haben, dass sie am Fernnetz angebunden sind. Sie nutzen das auch."

Andreas Hügerich, Bürgermeister von Lichtenfels

Bürgermeister Hügerich ist erst 34 Jahre alt, war also neun Jahre alt, als das Projekt ICE-Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen München und Berlin vor einem Vierteljahrhundert begonnen wurde. Ihn könnte man mit Tempo durchaus locken. Dazu passt die Minuten-Rechnung der Bahn, die die Lichtenfelser trösten sollte: Auch für sie gehe es jetzt schneller nach Berlin, nur halt nicht mehr direkt.

"Metropole ok, wenn ich in München wohne und ich sage, ich komme in vier Stunden nach Berlin. Oder wenn ich in Nürnberg oder Erfurt wohne, dann mag das eine schöne Sache sein. Aber diejenigen in Lichtenfels, in Westoberfranken, ach in ganz Oberfranken häng ich damit ab. Denn bis Bayreuth, bis Hof habe ich keinen ICE. Was passieren wird, weiß ich nicht. Vielleicht sagen unsere Kunden, dann nutze ich eben das Auto. Ich weiß es nicht, wohin die Reise geht."

Andreas Hügerich, Bürgermeister von Lichtenfels

Mehr Kriechen als Fahren

Von Lichtenfels aus fährt der Zug weiter nach Berlin – durchs Zeitloch. Jahrzehntelang gab der ICE bei Lichtenfels das E, den Express in seinem Namen ab, kroch erst durch Oberfranken und dann weiter Richtung Berlin. Die "Schleichfahrt" im alten ICE nach Berlin steht wohl für die alte Zeit, das alte Bahngefühl. Mehr als sechs Stunden dauert es, bis der alte ICE am Berliner Hauptbahnhof ankommt. Der neue High-Speed-ICE steht nun für die neue Zeit und braucht keine vier Stunden mehr von München nach Berlin.

Mit 300 Sachen durchs Lebenswerk

Für Geschäftsleute ist der Zug nun eine Alternative zum Flugzeug. Eine Alternative, mit der sie endlich klimaschonend auch von Bayern aus nach Berlin rasen können. Und 100 Ehrengäste durften schon kurz vor der Fahrplanumstellung von Bamberg nach Erfurt rasen, im neuen ICE. Sie haben diese Strecke gebaut – teilweise ihr ganzes Berufsleben mit ihr verbracht. 1991 wurde das Projekt besiegelt. Professor Dr. Siegfried Mängel trat damals seinen Job als Chef der Projektgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit an. Er sollte schnelle Zukunft ermöglichen, doch die wurde zur fast unendlichen Geschichte.

"Die Vorgeschichte: Wir haben als erstes die Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover-Berlin gebaut. In fünf Jahren. Neben einigen Lückenschlüssen, die wir nebenbei gemacht haben. Alles lief sehr gut und das Geld war bereitgestellt, dann haben aber ein paar CDU-Minister und später, noch schlimmer, die SPD-Leute gesagt, das wollen wir woanders hinlenken. Dadurch kam's zu dieser enormen Unterbrechung. Wenn wir hätten arbeiten dürfen, wie versprochen, dann hätten wir das alles schon vor zehn Jahren gehabt – was wir heute erleben."

Siegfried Mängel, ehemaliger Chef der Projektgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit

Ein Vierteljahrhundert später fahren sie auf dieser lange totgeglaubten Bahnstrecke. Die Stimmung gleicht einem Klassentreffen. Der Ausblick bei 300 Stundenkilometern ist bei dieser Wegbereiterfahrt eher Nebensache. Ohnehin gibt es oft nur Lärmschutzwände und Tunnel zu sehen. Viele Wegbereiter sind mittlerweile schon in Rente. Zeit wird relativ. Sie haben Jahrzehnte an etwas gebaut, das sie nun mit 300 Kilometern pro Stunde hinter sich lassen. Zeit vergeht wie im Flug, in diesem Zug.

"Eigentlich könnte es schneller gehen, denn die Technik erlaubt ja 330 bis 350 Stundenkilometer und Teile der Strecke sind ja auch so konzipiert worden, aber aus Zweckmäßigkeitsgründen hat die Bahn beschlossen, langsamer zu fahren – also wir junge, dynamische Leute würden gerne schneller fahren – das wäre noch mehr Konkurrenz zum Flugzeug."

Siegfried Mängel, ehemaliger Chef der Projektgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit


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