Auf dem rechten Auge hellwach Es ist Zeit, genauer hinzuschauen
Die Zutaten extrem rechter Ideologie sind stets die selben: Rassismus, Gewalt, Sehnsucht nach einem starken Führer, Hass auf alles, was nicht ins eigene Weltbild passt. Doch das Gewand, in dem diese Ideologie daherkommt, wandelt sich ständig. Deshalb gilt: Hellwach sein auf dem rechten Auge.
Von: Thies Marsen
Noch vor kurzem verzeichnete die Polizeistatistik für Bayern einen einzigen Toten durch extrem rechte Gewalt seit der Wiedervereinigung: Carlos Fernando aus Mosambik, erschlagen von einem Rassisten am 15. August 1999 im oberbayerischen Kolbermoor. Dass es im Freistaat in Wahrheit deutlich mehr Neonazi-Opfer gibt, darauf haben Fachleute immer wieder hingewiesen. Nun schaut es so aus, als würde auch die offizielle Statistik endlich nach oben korrigiert werden - zahlreiche in Bayern verübte Tötungsdelikte stehen aktuell auf dem Prüfstand.
Der NSU änderte den Blickwinkel
Wegschauen, ignorieren, abstreiten - so lautete lange die Devise, wenn es um extrem rechte Gewalttaten im Freistaat ging. Weil Ermittler und Justiz rassistische Motive und Gesinnung der Täter geflissentlich übersahen. Weil Gesellschaft, Politik und auch wir Journalisten zu wenig nachbohrten. Weil jeder neue Neonazimord einen Schatten auf die ach so heile weiß-blaue Welt wirft und schlecht ist fürs Standort-Image. Spätestens seit dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 wissen wir: Neonazis haben in Bayern deutlich mehr Menschen umgebracht, als wir wahrhaben wollten. Allein der NSU mordete zweimal in München und dreimal in Nürnberg. Doch das ist noch lange nicht alles.
Lange wurde nicht ermittelt
Am 7. September 1995 warfen zwei Neonazis einen 48-jährigen Homosexuellen im oberpfälzischen Amberg in die Vils. Er ertrank. Am 1. November 1999 lief ein 16-jähriger Rechtsextremer in Bad Reichenhall Amok, erschoss vier Menschen und verletzte sechs schwer, darunter den Schauspieler Günther Lamprecht. Am 6. Mai 2006 prügelten Rassisten im niederbayerischen Plattling einen 41-Jährigen aus Ausländerhass zu Tode. Am 26. April 2008 erstach ein Neonazi im schwäbischen Memmingen seinen Nachbarn mit einem Bajonett, weil der sich über den lauten Rechtsrock aus der Nachbarwohnung beschwert hatte. Auf diese Fälle haben Fachleute immer wieder hingewiesen, insbesondere die Amadeu Antonio Stiftung und Journalisten von "Zeit" und "Tagesspiegel". Dennoch wurde der neonazistische Hintergrund der Taten von Ermittlungsbehörden und Politik ignoriert - bis jetzt.
Zahlreiche nicht aufgeklärte Verbrechen
Wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion nun mitgeteilt hat, werden diese in Bayern verübten Morde derzeit erneut untersucht. Das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR), das nach dem Auffliegen des NSU geschaffen wurde, ist mit der Prüfung beauftragt. Und nicht nur das: Wie aus einer Auflistung der Bundesregierung hervorgeht, die dem BR vorliegt, werden auch 40 bislang unaufgeklärte Tötungsdelikte aus Bayern neu untersucht, bei denen der Verdacht nahe liegt, dass sie von Rechtsextremen verübt wurden - etwa weil die Opfer Migranten, Linke, Moslems, Juden, Behinderte oder Homosexuelle waren. Noch in diesem Jahr soll die Überprüfung abgeschlossen werden. Die offizielle Zahl der rechtsextremen Morde und Mordversuche in Bayern könnte also demnächst nach oben schnellen - von 1 auf über 50.
Mord in Kaufbeuren
Besteht nun die Hoffnung, dass nicht nur Versäumnisse aus der Vergangenheit endlich revidiert werden? Dass ab sofort endlich genauer hingeschaut wird, wenn Neonazis prügeln, morden, brandstiften? Schön wär's. Die Erfahrungen aus den vergangenen Monaten sind eher ernüchternd. Nach dem Mord an einem 34-jährigen Migranten auf dem Kaufbeurer Tänzelfest im Juli vergangenen Jahres verschwieg die Polizei zunächst, dass der Täter ein einschlägig bekannter Neonazi war - aus "ermittlungstaktischen Gründen".
Brand im Asylbewerberheim
Als Anfang Januar ein bislang unbekannter Täter versuchte, die Asylbewerber-Unterkunft in Germering bei München anzuzünden, wiegelte die Polizei noch am Tattag gegenüber einem Journalisten der "Abendzeitung" ab: Ein fremdenfeindlicher Hintergrund könne ausgeschlossen werden. Das hat das zuständige Polizeipräsidium in Ingolstadt inzwischen revidiert, von einem Anschlag will man dort aber bis heute nicht sprechen - schließlich seien ja keine rechtsextremen Schmierereien gefunden und auch kein Brandbeschleuniger verwendet worden.
Man muss sich offenbar ganz schön dumm anstellen, um in Bayern als Neonazi-Täter erkannt zu werden. Und offenbar haben die Ermittlungsbehörden aus dem NSU-Skandal immer noch viel zu wenig gelernt.