Gehirn, Demenz, Prävention Was macht unser Gehirn gesund oder krank?
Wir bewegen uns, nehmen wahr, fühlen, denken, kommunizieren, erinnern, planen und lernen. Die Schaltzentrale dafür ist unser Gehirn. Je gesünder es ist, desto effektiver und schneller sind wir. Aber was hält es gesund, was macht unser Gehirn krank und was können wir tun? Eine Menge, meinen Wissenschaftlerinnen und Ärzte. Bis zu 40 Prozent können wir uns selbst vor dem schützen, was alle fürchten: eine Demenz. Die Forschung zu Ursachen, Therapie und Prävention ist eines der spannendsten Wissenschaftsfelder der Medizin.
Unser Gehirn braucht Bewegung
"Unser Gehirn braucht Bewegung, um gesund zu bleiben: Körperliche und geistige Bewegung und Anregungen sorgen dafür, dass es fit und aktiv bleibt."
Prof. Dr. Gerd Kempermann, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Standort Dresden
Demenz: Was hilft und was kann jeder tun?
Risikofaktor Alter? Gehirn und Demenz
Die positive Nachricht vorweg: Die Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen, an einer Demenz zu erkranken, ist in den letzten Jahren sogar leicht gesunken. Da aber immer mehr Menschen älter werden, steigt die absolute Zahl der Demenzpatienten dramatisch an. Von den insgesamt 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz in Deutschland sind rund 1,2 Millionen an Alzheimer erkrankt. Noch gibt es keine ursächliche Therapie.
Demenz: Beginn im mittleren Alter
"Wir wissen, dass vor allem Alzheimererkrankungen sich über Jahrzehnte entwickeln, lange bevor Symptome auftreten. Auf der einen Seite haben wir so auch Jahrzehnte, in denen wir vielleicht positiv Einfluss nehmen können. Aber wenn wir die tatsächlichen Ursachen verstehen wollen, bedeutet das auch, dass wir schon Jahrzehnte vor dem Auftreten der Erkrankung anfangen müssen, danach zu suchen."
Prof. Dr. Dr. Monique Breteler, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Standort Bonn
Je früher desto besser: Prävention, Diagnose und Behandlung
Wie und wodurch Demenzen und neurodegenerative Krankheiten entstehen, dazu wird im Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen, kurz DZNE, geforscht. Seit 2009 suchen an zehn Standorten Wissenschaftlerinnen und Forscher unterschiedlicher Disziplinen gemeinsam nach Ursachen und Therapien. Vergleichbar ist die Situation mit dem Beginn der Krebsforschung. Vor 50 Jahren begann die koordinierte Arbeit in Zentren. Das führte zu entscheidenden Fortschritten. Auch im Umgang mit Demenz gibt es einen Paradigmenwechsel. Inzwischen gilt das Motto „Je früher, desto besser“ für Prävention, Diagnose und Behandlung.
Gefährlich fürs Gehirn: Was sind die Auslöser einer Demenz?
Eines der wegweisenden Projekte des DZNE ist die von Prof. Monique Breteler und ihrem Team 2016 begonnene Rheinlandstudie in Bonn. Die Studie sucht danach, was unser Gehirn gesund altern oder krank werden lässt. 20.000 erwachsene Teilnehmerinnen und Teilnehmer in zwei Stadtvierteln werden über 30 Jahre begleitet. Sie absolvieren alle vier Jahre regelmäßig mehrere Tests und Untersuchungen. Außerdem werden Haar-, Blut-, Stuhl- und Urinproben gesammelt und tiefgefroren. Damit lassen sich im Nachhinein kleinste Veränderungen des Stoffwechsels, genetische Faktoren und Einflüsse des Lebensstils aufspüren. Schon jetzt bestätigt sich: Alles, was schlecht ist für Herz und Gefäße, ist auch ein Risiko für unser Denkorgan. Ein Beispiel ist der Fettstoffwechsel, genauer die Fettverteilung im Körper. Besonders das viszerale Bauchfett, das sich um die inneren Organe anlagert, gilt als möglicher Risikofaktor. Auch niederschwellige, chronische Entzündungsprozesse scheinen Einfluss auf die Gesundheit des Gehirns zu haben.
Möglichst vermeiden: Die wichtigsten Risikofaktoren für eine Demenz
2020 veröffentlichte die Lancet-Kommission die Livingston-Studie zur Prävention und Behandlung von Demenz. Rund 40 Prozent lässt sich das Risiko für eine Demenz senken, wenn diese Faktoren vermieden werden:
- Rauchen
- Alkohol
- Bluthochdruck
- Bewegungsmangel
- Diabetes
- Adipositas
- Depressionen
- Schädel-Hirn-Traumen
- zu wenig Bildung in jüngeren Jahren
- Schwerhörigkeit
- soziale Isolation
- Luftschadstoffe
Das plastische Gehirn: lebenslange Reserve und wirksamer Schutz
Die komplex miteinander verbundenen Nervenzellen machen unser Gehirn zu einem extrem leistungsfähigen Organ.
Das Gehirn ist unser komplexestes Organ. Es verbraucht rund ein Fünftel der Energie, die wir täglich aufnehmen und besteht, kaum vorstellbar, aus rund 100 Milliarden Nervenzellen. Entscheidend für die Gesundheit sind neben seiner Versorgung Aktivität und Vernetzung. Forscher bezeichnen das als Plastizität. Ein aktives Gehirn, so Gerd Kempermann vom DZNE-Standort Dresden, ist besser vernetzt und hat eine Anpassungsfähigkeit, die ein Leben lang erhalten bleibt. Je größer sie ist, desto mehr und besser kann es mit den Widernissen des Alterns umgehen und desto besser auch eine Resilienz gegenüber neurodegenerativen Erkrankungen und Demenz aufbauen.
Adulte Neurogenese: Wenn neue Nervenzellen im Gehirn entstehen
"Ein extremes Beispiel für solche Plastizität ist die adulte Neurogenese. Das ist die Neubildung von Nervenzellen, die wir ausgerechnet in einer Hirnregion, dem Hippocampus, haben, die für Lernen und Gedächtnis ganz besonders wichtig ist. Da bildet sich sogar eine Reserve in Form von neuen Zellen. Das Netzwerk wird also auch an den Knoten verstärkt. Das finden wir sonst im Gehirn nicht."
Prof. Dr. Gerd Kempermann, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Standort Dresden
Bewegung: Dünger fürs Gehirn
Damit unser Gehirn gut funktioniert, muss es optimal durchblutet werden. Sport und Bewegung tragen dazu bei. Zu den konkreten Wirkungen forscht Prof. André Fischer am DZNE-Standort Göttingen. Ein Ergebnis: Nach Sport bilden sich neue Blutgefäße, die Sauerstoffversorgung verbessert sich. Daneben gibt es aber weitere wichtige Faktoren, die positiv auf das Gehirn wirken. Aus den Muskeln werden Stoffe freigesetzt und ins Gehirn transportiert. Sie führen dazu, dass Nervenzellen nicht absterben, besser funktionieren und sich unter Umständen sogar neue Zellen bilden.
Teilnehmer einer Studie machten dreimal pro Woche 30 Minuten ein spezielles Sportprogramm. Das Ergebnis nach drei Monaten waren verbesserte kognitive Fähigkeiten vor allem des Langzeit- und des Arbeitsgedächtnisses. Erste Ergebnisse einer Studie aus Aachen zeigen außerdem positive Auswirkungen auch für Patienten, die schon erste Anzeichen einer Demenzerkrankung aufweisen. Neben der körperlichen Fitness verbesserte sich im Laufe der Studie deren Arbeitsgedächtnis. Veränderungen waren auch in der Bildgebung zu sehen.
Ernährung: Was is(s)t gut fürs Gehirn?
Auch die Ernährung rückt in den Fokus der Demenz-Forschung. Hinweise auf positive Wirkungen gibt es bereits.
Was wir essen - ob uns das wirklich vor Demenz schützen kann, dazu gibt es noch keine belastbaren Daten. Aber es gibt Hinweise darauf, dass zum Beispiel die mediterrane Kost positiven Einfluss auf das Gedächtnis und den konkreten Verlust von Hirnsubstanz haben kann. In Interventionsstudien, wie die in Erlangen laufende Studie BrainFit-Nutrition für Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen, wird gezielt untersucht, wie sich die Ernährung auf eine mögliche Erkrankung auswirkt. Außerdem stehen auch bestimmte Nahrungsergänzungen im Fokus der Forscher.
Wenn das Gehirn krank wird: Demenz ist nicht gleich Demenz
Allen Demenzen gemeinsam ist: Gehirnzellen sterben ab. Wichtige Bereiche wie Orientierung, Planen, Lernen, Erinnern, Motorik, Sprache, sozialer Austausch, Urteilsvermögen oder auch die Aufmerksamkeit werden beeinträchtigt oder gehen verloren - bis hin zum Persönlichkeitsverlust. Manchmal passiert das schnell wie zum Beispiel bei einem Schlaganfall. Bis zu zwei Millionen Nervenzellen pro Minute können dabei zugrunde gehen. Bei neurodegenerativen Krankheiten wie zum Beispiel Parkinson ist der Prozess langsam und schleichend, auch bei den gefäßbedingten oder vaskulären Demenzen. Sie machen rund ein Drittel der Erkrankungen aus. Die häufigste Form der Demenz aber ist die Alzheimer Krankheit. Nur rund ein Prozent der Erkrankungen geht auf Vererbung zurück. Eine sichere Diagnose erfordert oft mehrere Termine, Tests und aufwändige und kostspielige Untersuchungen, wie das bildgebende MRT oder die Analyse der Rückenmarksflüssigkeit auf bestimmte Biomarker. Sie zeigen erste Veränderungen an. Treten Symptome auf, sind schon viele Nervenzellen zugrunde gegangen.
Alzheimer: Kaskade mit fatalen Folgen
Alzheimer: Außerhalb der Zellen lagern sich Plaques an, durch veränderte Proteine in den Zellen sterben die Zellen und Verbindungen ab.
Hauptrisikofaktor für eine Alzheimererkrankung ist das Alter. In so gut wie allen Gehirnen lagern sich außerhalb der Zellen zunehmend Amyloid Plaques ab, verklumpte Proteine. Immunzellen des Gehirns, die Mikrogliazellen, bekämpfen sie zwar, schaffen aber nicht, die Plaques auf Dauer abzuräumen. In den Zellen verändern sich außerdem Tauproteine zu sogenannten Tangles. Als Folge davon gehen die Zellen und ihre Verbindungen zugrunde. Noch ist nicht abschließend geklärt, welche Rolle die einzelnen Prozesse jeweils spielen. Doch ist die Krankheit fortgeschritten, lässt sich der Prozess der Zerstörung nicht mehr aufhalten.
Prof. Christian Haass vom DZNE-Standort München sieht die Krankheit als Kaskade, ausgelöst durch das Protein Amyloid und die Plaquesbildung. Dafür spricht seiner Meinung nach der natürliche Schutz vor Alzheimer einer isländischen Familie. Eines ihrer Gene weist eine Mutation auf. Es verringert die Amyloidproduktion um 40 Prozent. Die Folge: Selbst im hohen Alter bilden sich keine Plaques, die Familie ist vor Alzheimer geschützt. Ein weiterer Hinweis sind die Erkrankungen von Menschen mit Downsyndrom, der Trisomie 21. Auf dem Chromosom 21 sitzt das Gen, das die Amyloidproduktion steuert. Oft ist bei ihnen genau dieser Teil des Chromosoms mehrfach vorhanden. Es kommt zu einer vermehrten Produktion von Amyloid. Viele Menschen mit Downsyndrom haben deshalb ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken.
Alzheimer-Demenz: Welche Therapieansätze gibt es?
Ein hoffnungsvoller Ansatz für viele Forscher sind Antikörper. Auch Prof. Christian Haass in München forscht dazu. Rund siebzig Prozent der vorhandenen Plaques müssen beseitigt werden, damit Effekte auf Kognition und Gedächtnis möglich sind. Nach vielen Rückschlägen meldet im Spätherbst 2022 erstmals eine Phase III Studie mit dem Antikörper Lecanemab tatsächlich Erfolge. Um rund 27 Prozent konnte der Gedächtnisverlust in 18 Monaten bei Teilnehmern reduziert werden. Das Prinzip: Die Plaques werden mit Antikörpern markiert, Immunzellen können sie so besser und effektiver abräumen. Ein beachtlicher Erfolg und wichtiger Schritt, trotz der vorhandenen Nebenwirkungen. Und ein Ansatz, der weiteres Potential bietet. Christian Haass forscht konkret daran, Mikrogliazellen so zu stimulieren, dass sie Plaques noch effektiver beseitigen können. Sein Ziel: Die Amyloid- Kaskade zu unterbinden oder in Zukunft zumindest zu unterbrechen, um den aktuellen Zustand von Patienten zu stabilisieren.
Frühtest und KI: mit neuen Biomarkern zu möglichen Kombinationen von Therapien
Damit Patienten von kommenden Therapien profitieren können, müssen Diagnosen möglichst früh gestellt werden. Mehrere Gruppen forschen aktuell zu Frühtests mit neuen Biomarkern. Sie sollen Veränderungen anzeigen, bevor Zellen zugrunde gehen und erste klinische Symptomen auftreten. Prof. André Fischer in Göttingen ist dem Ziel schon sehr nahe. Er und sein Team nutzen dazu drei spezielle microRNAs. Sie steuern wichtige Prozesse im Gehirn: den Energiestoffwechsel, die Synapsenfunktion und Entzündungsprozesse. Alle stehen in direktem Zusammenhang mit kognitiven Leistungen. Außerdem lassen sie sich im Blut nachweisen. Der Test, der in Zukunft angewendet werden könnte wie ein einfacher Corona-Test, funktioniert in Studien bereits und gibt einen Hinweis auf das Demenzrisiko. Studienteilnehmer mit erhöhten Werten entwickelten in den nächsten zwei bis drei Jahren tatsächlich eine Demenz.
Mit solchen Tests könnte in Zukunft jeder sein individuelles Demenzrisiko leicht selbst ermitteln, um sich dann gezielt untersuchen und behandeln zu lassen. Dabei helfen wird zukünftig auch KI, Künstliche Intelligenz. Pro einzelner Zelle können heute hunderte bis mehrere tausend Parameter bestimmt werden. KI ist in der Lage, aus riesigen Datenmengen vieler Patienten mögliche, charakteristische Muster zu erkennen, die auf eine Demenz hinweisen. Außerdem kann künstliche Intelligenz helfen herauszufinden, welche Therapien welchen Patienten auch wirklich nutzen können.
Noch Zukunft: die wirksame Therapie
"Wenn wir es schaffen, Menschen mit einem hohen Demenzrisiko sehr früh zu identifizieren und mit Kombinationstherapien zu behandeln, dann wird wahrscheinlich auch, und davon geht das Feld aus, eine ursächliche Therapie für Alzheimer möglich sein. Aber noch ist nicht klar, wann das möglich sein wird."
Prof. Dr. André Fischer, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Standort Göttingen
Gehirntraining: Bringt das wirklich was ?
Bleibt die Frage: Gibt es Tätigkeiten, mit denen wir die Fitness des Gehirns gezielt trainieren können? Tatsächlich können bestimmte Bilderpuzzle oder auch Quiz-Programme helfen. Grundsätzlich, so Forscher Gerd Kempermann, sollte jeder möglichst vielfältig seine sportlichen und kognitiven Fähigkeiten nutzen und trainieren, aber ohne Stress. Denn alleine Kreuzworträtsel zu lösen, trainiert eben nur die Fähigkeit, Kreuzworträtsel zu lösen. Sport und Bewegung, das Pflegen sozialer Kontakte, das Lernen neuer Sprachen und Fertigkeiten mit der Aussicht, das neue Wissen auch einzusetzen, neue Herausforderungen anzugehen, das trainiert und begünstigt die Gesundheit des Gehirns.