Erinnerungen 30 Jahre Tschernobyl
30 Jahre liegt die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nun zurück. Und jeder ab einem gewissen Alter hat wohl so seine eigenen Erinnerungen an diesen Tag. In „Sehen statt Hören“ erinnern sich fünf Zeitzeugen an ihre Erlebnisse.
30 Jahre Tschernobyl - Zeitzeugen berichten
Vladimir
Vladimir lebte damals in Kiew, gerade einmal 100 Kilometer vom Reaktor entfernt. Doch als das Unglück passierte, war er 300 Kilometer weit weg. Er besuchte die 6.Klasse – und fühlte sich nicht informiert: Es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass man im Freien nichts essen sollte und auch vom Brunnenwasser wurde abgeraten. Mehr nicht. Erst nach und nach begriff Vladimir, wie schlimm die Explosion und wie gefährlich die Strahlung war. Es hieß, man könne sterben. Das hatte ihn geschockt. Er erinnert sich heute noch an die Menschen, die sich nach Tschernobyl veränderten – Es fielen ihnen beispielsweise büschelweise die Haare aus.
Oleksandr
Oleksandr war im Urlaub beim Schwimmen, als das Unglück passierte. Er wunderte sich noch, dass er an diesem Tag ganz alleine am Strand war. Selbst als ein alter Mann wie wild auf ihn einredete und immer wieder Richtung Himmel deutete, ahnte er noch nichts von der Katastrophe. Davon erfuhr Oleksandr erst, als er nach Tagen aus dem Urlaub wieder in die Arbeit kam. Er war geschockt. Zurück in Kiew waren die Straßen wie leergefegt – viele hatten die Stadt schon verlassen. Oleksandr blieb und musste viele Sicherheitsmaßnahmen befolgen: Die Fenster blieben zu, sie wurden täglich geputzt. Wenn er einkaufen ging, musste er im Geschäft erst seine Schuhe abwaschen. Irgendwann ging er sorgenvoll ins Krankenhaus, um sein Blut testen zu lassen. Man sagte ihm, er sei gesund.
Olena
Olena ist nach der Arbeit mit einer Kollegin durch die Stadt flaniert. Sie hat sich gewundert, als plötzlich die Rettungsfahrzeuge an ihnen vorbeigerast sind. Zuhause berichtete ihr hörender Mann von der Explosion im Reaktor und der hohen Strahlung. Sie waren voller Sorgen und wusste nicht, ob sie bleiben oder gehen sollten. Die Kinder wurden nach Weißrussland gebracht, auch das Kind ihres Mannes. Sie selbst blieben. Sie erinnert sich daran, dass täglich die Straßen mit Wasser gereinigt wurden und das Essen dick in Plastik eingepackt war. Nur aus der Zeitung bekam sie mit, dass die Menschen krank wurden und starben. Auch von den Menschen aus den Hilfstrupps überlebte kaum jemand. Die Natur hatte sich zudem verändert: Die Bäume waren wild gewachsen und größer, die Tiere hatten Missbildungen.
Natalja
Natalja war 1986 23 Jahre alt und hatte einen vierjährigen Sohn. Erst am 3. Mai, also über eine Woche nach der Katastrophe, erfuhr sie vom Unglück in Tschernobyl. Dann wurden die Menschen in Kiew aufgerufen, die Stadt zu verlassen – vor allem die Kinder sollten evakuiert werden. Daraufhin waren tausende Menschen am Bahnhof. Natalja versuchte ein Flugticket zu bekommen: Drei Tage und Nächte musste sie anstehen, bis sie eines für ihren Sohn bekam. Die Eltern blieben. Kiew war menschenleer und es herrschte gespenstische Stille. Zu ihrem Sohn konnte sie erst vier Monate später fliegen und ihn wieder in die Arme schließen.
Valeriy
Valeriy lebte damals in Kiew, war jedoch bei seiner Mutter zu Besuch, als der Reaktor explodierte. Die Mutter bat ihn inständig nicht zurückzufliegen – doch Valeriy sagte, er müsse doch zurück zur Arbeit. Am 6. Mai war er tatsächlich zurück. Die Anweisungen, die er bekam, waren beängstigend: Die Fenster der Häuser mussten geschlossen bleiben, Kleidung, die man im Freien trug, musste weggepackt werden. Und täglich musste das komplette Haus geschrubbt werden. Ein Jahr lang machte er das. Er erinnert sich heute noch daran, wie um ihn herum die toten Tiere eingesammelt und weggebracht wurden.