Dr. Elisabeth Rauh, Psychotherapeutin Essstörungen als Krankheitsbild
Viele Studierende leiden wegen Stress immer häufiger unter Essstörungen, die lebensgefährlich werden können. Statt Hilfe zu suchen, schämen sie sich. Dr. Elisabeth Rauh berät. Sie ist Fachärztin und als Expertin bekannt für Essstörungen.
1) Welche Essstörung hat die schlimmsten Folgen: Anorexie, Bulimie, Binge Eating oder Adipositas?
Die Frage nach den schlimmsten Folgen ist komplex. Rein statistisch ist die Magersucht mit einer Sterblichkeitsrate zwischen 8-15 % die gefährlichste Essstörung. Was ist aber für den einzelnen das Schlimmste? Das ist eine quälende Gefühlswelt von z. B. Scham, Schuld, Selbsthass, Ekel, Selbstbestrafungswünschen. Diese Gefühle werden als schlimmer erlebt als die körperliche Begleiterscheinungen.
2) Wie kann ich als Freund/Freundin eingreifen, wenn ich sehe, dass jemand immer mehr in eine Essstörung entgleitet?
Eingreifen bedeutet nicht, dass ich etwas tun kann oder muss, was Symptome stoppt, z. B. Kochen für den anderen, Überwachen der Mahlzeiten etc.. Eingreifen würde bedeuten, wahrnehmen, dass der andere eine Erkrankung hat und ihn ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Falls man Ansprechpartner oder Adressen hat, kann dieser Wissensvorsprung hilfreich sein. Da die Erkrankung sich schleichend entwickelt, braucht man Geduld und Hartnäckigkeit, da oft ein zeitlich versetztes Problemverständnis vorliegt. Unabhängig davon, ob der andere den Schritt macht, sollte man den Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten und wohltuenden Unternehmungen richten.
3) Welche Rolle spielt Sport und Bewegung bei Essstörungen? Eine positive oder eine negative?
Weder Gewicht noch das Ausmaß an Sport kann normativ betrachtet werden. Entscheidend ist das Motiv, wofür der Betroffene Sport macht. Daraus abgeleitet ergibt sich die positive oder negative Auswirkung.
4) Wie kann ich eine Essstörung überwinden? Ist es bei der "Überwindung" bzw. Therapie egal, um welche Essstörung es sich handelt? Ist es am Ende bei allen die gleiche Basis?
Das Tragische ist, dass alle großen Ideen zum therapeutischen Vorgehen keine befriedigenden Lösungen gezeigt haben. Das bedeutet, dass ein großes Spannungsfeld aus Entschlossenheit der Betroffenen und den Unterstützungsangeboten vorliegt. Wir wissen, dass die automatisierten außer Kontrolle geratenen Prozesse nur schwer zurück reguliert werden können und dass man dazu Zeit, Ausdauer und Mut braucht, unangenehme Zustände auszuhalten. Umso mehr, dass die Prozesse nicht so ticken, dass man es einmal verstanden haben muss, und dann klappt es, sondern eher die Komplexität der höheren Mathematik haben, das heißt, dass es mit fortschreitender Bewältigungskompetenz erst mal komplizierter wird. Die Art der Essstörung entscheidet über inhaltliche Schwerpunkte. Aber eigentlich ist es egal, ob die Achse „Kontrolle“ in Richtung Kontrollverlust oder Überkontrolle ausschlägt, Ziel ist es, die Mitte zu finden.
5) Wie kann ich - nach einer überwundenen Essstörung (Anorexie, Bulimie, Binge Eating und Adipositas) schlank oder rund, auf ein meinem Körper angemessenes Gewicht kommen und es auch halten?
Unser Gewicht ist eine Aussage über unsere Kraft, Energie und Energiereserve. Deshalb wird es gut von extrem komplexen Stoffwechselprozessen verteidigt. Im Laufe des erwachsenen Älterwerdens verändert sich die Konstellation und Dynamik dieser Prozesse. Gewichtsveränderungen sind die Resultate, vereinfacht ausgedrückt, nehmen wir mit dem Älterwerden zu. Es gibt also nicht ein Gewicht wie eine Schuhgröße. Das bedeutet, „Gewicht halten“ ist mittels gedanklicher Kontrolle gar nicht möglich und auch nicht nötig, wenn wir diesen Zustand akzeptieren. Welches Gewicht sollen wir also akzeptieren? Das Gewicht, welches sich einpendelt, wenn wir regelmäßig und ausreichend essen. Um sich dies abzusichern ist eine achtsame Haltung hilfreich. Das ist nichts Neues, sondern traditionell in unseren Köpfen längst bekannt. Moderne Achtsamkeitsempfehlungen würden bedeuten: ich esse regelmäßig, ausreichend, in Gesellschaft, ein warmes Gericht und ohne Bildschirm.
Dr. Elisabeth Rauh ist Expertin für Essstörungen. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, Zusatzbezeichnung: Kognitive Verhaltenstherapie. Als Chefärztin leitet Dr. Rauh das Fachzentrum Psychosomatik in der Schön Klinik Bad Staffelstein. Das Interview führte Campus Magazin-Reporterin Elisabeth Mayer.