Campus Doku Schutzschild für die Seele - Ist Stärke erlernbar?
Jeder Mensch durchlebt Krisen. Manche zerbrechen daran, andere wachsen an den Herausforderungen. Diesem Geheimnis des Inneren sind Resilienzforscher auf der Spur. Ein Wissen, das vielleicht allen Menschen helfen kann. Ist Stärke erlernbar?
Internationale Studien zeigen, dass heute knapp ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen gravierende Verhaltensprobleme hat. Ängste, Depressionen, Essstörungen, Hyperaktivität – Kinder und Jugendliche werden mit dem Druck und den Herausforderungen in der heutigen Gesellschaft immer schlechter fertig. Zunehmend ist es daher das Ziel der Forschung, das Wissen um psychische Widerstandskräfte und „Schutzfaktoren“ in die Praxis umzusetzen. Mit Präventivprogrammen wollen Wissenschaftler die sogenannte Resilienz schon im Kindergartenalter stärken.
Resilienz - das Schutzschild der Starken
Viele Jahre beschäftigte sich die Wissenschaft damit, warum Menschen scheitern – welche Risikofaktoren dazu beitragen, dass sie psychisch krank oder straffällig werden. Die Perspektive änderte sich in den vergangenen Jahren. Die Resilienzforscher blicken auf das Potential der Menschen und überlegen, wie sie es stärken können. So entwickelte sich aus der Entwicklungspsychopathologie die Resilienzforschung. Der amerikanischen Wissenschaftlerin Emmy Werner fiel in den 1950er-Jahren auf, dass manche Menschen, die unter extrem schwierigen Bedingungen aufwuchsen, trotzdem nicht aus der Bahn geworfen wurden. Und sie stellte die Frage: „Was schützt sie?“ Längsschnittstudien, die Kinder bis in das Erwachsenenalter begleiteten, sollten einige Jahre später die Antwort liefern. Denn die Menschen, an denen Katastrophen abzuperlen schienen, hatten alle etwas gemein. In Deutschland war Friedrich Lösel, der ehemalige Direktor des Instituts für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, ein Vorreiter der Resilienzforschung. Er untersuchte Heimkinder und suchte nach Schutzfaktoren, die dazu beitragen, dass ein Teil von ihnen ihr Leben meisterte – trotz einer oft sehr schwierigen Situation. Lösel kam zu ähnlichen Ergebnissen wie Emmy Werner und ermittelte über die Jahre ein ganzes Bündel solcher Schutzfaktoren.
Der Einfluss der Erziehung
Entscheidend sind demnach in der Kindheit eine stabile, positiv-emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson, (das können nicht nur Mutter oder Vater sein, sondern auch eine andere zuverlässige Person), ein unterstützendes, Struktur gebendes Erziehungsklima, soziale Unterstützung außerhalb der Familie, Vorbilder, das Erleben dosierter Anforderungen und Verantwortung, die sogenannte Selbstwirksamkeit, d.h. die Überzeugung, Situationen durch eigenen Kompetenzen und Handlungen beeinflussen zu können, und die Erfahrung von Sinnzusammenhängen und Struktur im Leben. Aber auch das Schreiben von Tagebüchern oder Gedichten sowie Interessen und Hobbies, die Freude und Selbstbestätigung fördern, sowie ein humorvoller Blick auf das Leben oder der Glaube an Gott können als Schutzfaktoren wirksam werden. Für Prof. Lösel steht nach vielen Studien heute fest: Individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten wie Intelligenz oder Temperament spielen eine Rolle, aber noch wichtiger für die Entwicklung von Resilienz sind das soziale Umfeld und die Erziehung.
Der Einfluss der Gene
Inwieweit ist Resilienz schon in den Genen angelegt? Dieser Frage geht der Würzburger Verhaltensforscher Prof. Klaus-Peter Lesch nach. Er hat es geschafft, besondere genetische Merkmale nachzuweisen, die Resilienz fördern oder beeinträchtigen. Lesch geht davon aus, dass es hunderte „Resilienz-Gene“ gibt. Seine Versuche zeigen jedoch auch: Selbst wenn „schlechte“ genetische Voraussetzungen zugrunde liegen, kann das durch liebevolle Betreuung und Erziehung kompensiert werden.
Am Leben gewachsen
Lebensgeschichten von Menschen, die schwierigste Situationen gemeistert haben, belegen die Ergebnisse der Resilienzforschung. Der Film erzählt die Geschichten von Zuhal Soyhan und Oliver Brendel. Beide sind an den Herausforderungen ihres Lebens gewachsen, beide hatten aber auch „Schutzfaktoren“. Oliver Brendel litt an dem seltenen Guillain-Barré-Syndrom. Innerhalb von zehn Tagen war er komplett gelähmt. Die Aussicht auf Besserung oder Heilung war ungewiss. Ein Jahr nach dem Beginn seiner schweren Krankheit, nach Wochen und Monaten im Krankenhaus und der Rehaklinik war er so gesund, dass er wieder beim Super-Triathlon „Ironman“ mitmachen konnte. Oliver Brendel hat während der Krankheit seinen Optimismus nie verloren. Über seine Erlebnisse hat er ein Buch geschrieben, das anderen Guillain-Barré-Syndrom-Patienten Mut machen soll: „Ich bin dann mal gelähmt.“
Zuhal Soyhan wurde im Alter von drei Jahren von einem Erdbeben in ihrer Heimat, der Türkei, verschüttet und mit zahlreichen Knochenbrüchen gerettet. Doch die Knochen wollten nicht mehr zusammenwachsen. Aus der Not heraus wurde sie von den Eltern nach Deutschland geschickt. Die Diagnose: Glasknochenkrankheit. Fern der Heimat verbrachte sie Jahre in der Orthopädischen Klinik München-Harlaching und später in der angrenzenden Landesschule für Körperbehinderte. Ihren positiven Blick aufs Leben hat sie trotz ihrer schweren Kindheit und vieler Tiefschläge nicht verloren. Sie ist heute eine erfolgreiche Journalistin und Moderatorin und bezeichnet sich als Glückspilz. Auch sie hat ihre Erlebnisse niedergeschrieben in dem Buch „Ungebrochen.“
Präventivprogramme zur Stärkung der Resilienz
Friedrich Lösel hat mit seinen Mitarbeitern das Präventionsprogramm „Effekt“ entwickelt. Es besteht aus einem Eltern- und einem Kinderkurs – für Eltern von Kindern zwischen 3 und 10 Jahren und Kinder ab 4 Jahren bis zum Grundschulalter. Beide Kurse werden sowohl einzeln als auch in Kombination angeboten. Die Eltern lernen Erziehungsregeln, die Kinder erfahren, wie sie Konflikte besser lösen und ihre Gefühle einordnen können. In einer über mehrere Jahre angelegten Studie konnte Friedrich Lösel die Wirksamkeit des Programmes nachweisen.
Die Ergebnisse der Resilienzforschung fließen jedoch auch jenseits von Programmen in den Kindergartenalltag ein. In bayerischen Kindergärten sind die Erzieherinnen verpflichtet, die Kinder mithilfe des sogenannten Perik-Bogens (Positive Entwicklung und Resilienz im Kindergartenalltag) auf ihre sozial-emotionale Entwicklung hin zu beobachten. Der Bogen soll 6 Basis-Kompetenzen erfassen: Kontaktfähigkeit, Selbststeuerung/Rücksichtnahme, Selbstbehauptung, Stressregulierung, Aufgabenorientierung und Explorationsfreude. Im Waldorfkindergarten Baierbrunn hat sich die Erzieherin Martina Danassy in ihrer Ausbildung intensiv mit dem Thema Resilienz auseinandergesetzt. Sie stieß dabei auf eine Geschichte, die ihr besonders zu denken gab: Menschen, die während des Krieges im Gefangenschaft geraten waren und starken Belastungen ausgesetzt waren, zehrten in dieser Zeit von lange zurück liegenden Erlebnissen und schöpften viel Kraft aus ihren glücklichen Erinnerungen. Martina Danassy möchte genau das im Kindergarten verwirklichen – den Kindern Erlebnisse mitgeben und Beziehungen zu Menschen, die so fest und intensiv sind, dass sie die Kinder ein Leben lang tragen. Sie sagt, es seien oft die kleinen Dinge, die viel Wirkung haben. Die Erzieherin versucht schon in der Früh bei der Begrüßung, jedes Kind einzeln wahrzunehmen und sich Zeit zu nehmen. Den Kindern nicht alles abzunehmen, sondern sie ausprobieren und an Herausforderungen wachsen zu lassen, sieht Martina Danassy als wichtige Voraussetzung zur Ausbildung von Resilienz. So sei auch das Freispiel ein wichtiges Mittel, um die Kinder zu stärken. Was spielen und mit wem? Die Kinder müssen sich entscheiden und behaupten. Nicht immer einfach. Aber wirkungsvoll.
Es ist nie zu spät, resilient zu werden
Doch die Resilienzforschung macht auch Erwachsenen Mut. Auch sie können noch Verhaltensweisen erlernen, die sie widerstandsfähig und krisenfest machen. Eigenschaften, die immer wichtiger werden. 2011 wurden mehr als doppelt so viele Krankschreibungen wegen psychischer Probleme verzeichnet als noch vor zehn Jahren. Die Resilienz-Trainerin Sylvia Kéré-Wellensiek hat auf der Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse ihr eigenes Programm entwickelt. Durchschnittlich fünf Tage dauern ihre Seminare. Die Seminarteilnehmer sollen sich bewusst machen, wo ihr Leben in eine falsche Richtung läuft und bekommen dann ein Trainingsprogramm an die Hand, das ihnen helfen soll Verhaltensweisen zu ändern. Besonders wichtig findet Sylvia Kéré-Wellensiek, den Menschen klar zu machen, wie viel Kraft sie meist schon bewiesen haben, indem sie hilft, aufzuzeigen, was jeder einzelne schon alles durchlebt und gemeistert hat. Die Teilnehmer verlassen mit der schönen Botschaft das Seminar, dass jeder das Potential hat, resilient zu werden.
Literatur
- Oliver Brendel: Ich bin dann mal gelähmt. Vom Ironman zum Pflegefall und zurück (e-book/ Hörbuch), 2012
- Zuhal Soyhan: Ungebrochen. Mein abenteuerliches Leben mit der Glasknochenkrankheit, 2012
- Günther Opp, Michael Fingerle: Was Kinder stärkt, 2008
- Klaus Fröhlich-Gildhoff, Maike Rönnau-Böse: Resilienz, 2009
- Sylvia Kéré-Wellensiek: Fels in der Brandung statt Hamster im Rad, 2012
- Sylvia Kéré-Wellensiek: Handbuch Resilienz-Training, 2011