Social Distancing im Studentenwohnheim Stockwerksgemeinschaften gegen den Coronablues
Zum Semesterstart gilt Social Distancing: nicht mehr gemeinsam im Hörsaal sitzen, Essen und Lernen von zuhause aus. Von anderen Menschen möglichst Abstand halten und lieber nur virtuelle Kontakte pflegen. Doch wie soll das gehen, wenn man dicht auf dicht im Studentenwohnheim wohnt, und sich Bad, Küche und Aufenthaltsraum mit vielen anderen teilt? Was ist dort überhaupt noch erlaubt?
Allein in München leben über 12000 Studierende in Wohnheimen. In vielen davon teilen sich die Bewohner eines Stockwerks jeweils Küche und Bad. Und manche Gemeinschaftsräume stehen der ganzen Wohnanlage zur Verfügung – bis zu hunderten oder gar tausenden von Menschen.
Digitales Sozialleben
Die Münchner Studentenstadt etwa, Deutschlands größte Studentensiedlung, beherbergt rund 2500 Mieter.
Im 8. Stock des 1973 eröffneten Hanns-Seidel-Hochhauses, dem größten und höchsten Gebäude der Studentenstadt, wohnt Katharina Latsch, 27. Die Masterstudentin steht auf der Warteliste für Online-Vorlesungen ihres Studiums „Consumer Science“ an der TU München. Trotz bevorstehendem Semesterstart ist noch nicht sicher, ob sie in allen Vorlesungen ihres Faches einen – virtuellen – Platz bekommt.
Anders als an vielen Hochschulen, wo man derzeit noch an der Umstellung auf den digitalen Lehrbetrieb tüftelt, spielt sich das Leben in der Studentenstadt bereits in virtuellen Räumen ab. Über das Programm Discord können sich die Bewohner nun zum Beispiel in einer „digitalen Bar“ oder auf einer „digitalen Dachterrasse“ treffen – eingerichtet von der studentischen Selbstverwaltung, in der sich auch Katharina engagiert:
"Das, was die Studentenstadt eben ausmacht, ist, dass man das Gemeinschaftsleben hat, und wenn man das eben nicht hat, kann’s schon echt ein bisschen komisch werden. Die Zimmer sind recht klein, aber das lässt sich ganz gut aushalten durch die studentische Selbstverwaltung und dieses ganz besondere Miteinander der Leute hier. Wir haben die Aufgabe, Events und Ausflüge oder Unternehmungen zu organisieren für die Bewohner, für den Zusammenhalt, damit sich die Leute kennenlernen. Genau da muss man jetzt versuchen, digitale Wege zu gehen."
(Katharina Latsch)
Ein Haushalt pro Stockwerk
Im Münchner „John-Mott-Haus“ für männliche Studenten lädt Heimsprecher Kuo-Yi Chao, der Elektrotechnik studiert und hier seit drei Jahren wohnt, die Bewohner der anderen Stockwerke nun regelmäßig per Skype zum traditionellen und inzwischen „virtuellen Weißwurschtfrühstück“ ein. Auf jedem Stockwerk wohnen normalerweise 17 Personen, die sich Küche und Bad teilen, und somit als gemeinsamer Haushalt gelten. Allerdings ist aktuell nur rund die Hälfte des Hauses bewohnt, da viele Studierende wegen der Corona Krise vorübergehend zu den Eltern gezogen sind.
Während Kuo-Yi mit den dagebliebenen Bewohnern seines Haushalts frühstückt, können sich die anderen WG’s des Hauses online dazuschalten und so auch am Essen teilnehmen.
Dass die WG-Bewohner hier untereinander keinen Abstand halten, ist nicht gesetzwidrig, denn innerhalb des eigenen Haushalts entfällt die verordnete Kontaktsperre. Im Gegensatz zum vorgeschriebenen Verhalten gegenüber Hausbewohnern außerhalb der eigenen WG: auf dem Gang oder im Hof gilt Abstand halten wie allernorts. Auch üblicherweise vom ganzen Haus genutzte Gemeinschaftsräume wie die Bar im Erdgeschoß stehen jetzt bis auf Weiteres leer.
Reden gegen Kummer
Cornelia Hausner ist 24 und studiert BWL an der Hochschule München sowie Philosophie an der Münchner LMU. Dass sie in ihrem Wohnheim „Roncalli Kolleg“ in München-Neuhausen jetzt Abstand von den Bewohnern der anderen Stockwerke halten muss, ist für sie ertragbar, da sie den Haushalt mit guten Freunden teilt. Von den eigentlich 18 WG-Bewohnern sind allerdings nur 9 im Wohnheim geblieben. Die möchte Cornelia jedoch nicht missen, da ein gemeinschaftliches Umfeld auch vor situationsbedingten Ängsten und Depressionen schütze:
"Ich habe acht Leute, mit denen ich mich austauschen kann, mit denen ich reden kann. Und natürlich ist es praktisch, wenn man die Leute davor schon kannte. Und wenn man den Leuten auch ein stückweit vertraut, weil man die schon länger kennt. Dann kann man genau über so was reden. Und dann löst sich das oft auch auf. Aber ich glaube, wenn man jetzt alleine isoliert ist, ist das wesentlich schwieriger."
(Cornelia Hausner)
Der Psychotherapeutische und Psychosoziale Dienst des Studentenwerk München berät momentan nur telefonisch. Auch Einrichtungsleiter Evangelos Evangelou rät jetzt dazu, die eigenen Ängste und Sorgen möglichst anderen Menschen anzuvertrauen – allerdings per Telefon oder Social Media:
"Ich beziehe mich auch ein bisschen auf ein sehr bekanntes Modell der Psychologie, das unter anderem sagt, dass die Widerstände gegen Stress höher sind, wenn man andere Faktoren hat, die dazu beitragen. Und dazu gehört der soziale Rückhalt. Wir haben jetzt das Glück, dass wir trotzdem etwas daraus machen können, auch wenn wir die Leute nicht berühren dürfen, wenn wir uns mit den Leuten nicht treffen dürfen oder sollten. Das brauchen wir alle. Vielleicht ist es notwendig, um das Beste aus der Krise zu machen, auch ein Stückchen die Art zu ändern, wie wir miteinander kommunizieren. Dass wir vielleicht mehr versuchen, Gefühle anzusprechen und mit anderen zu teilen."
(Evangelos Evangelou)
Liebhaberprojekte geben Tagesstruktur
Eine wichtige Rolle für die psychische Verfassung spiele auch das Vorhandensein einer Tagesstruktur. Welche nun aufgrund der Corona-Maßnahmen für Viele zunächst wegbricht. So könne leicht ein Gefühl der fehlenden Sicherheit und Kontrolle über das eigene Leben entstehen. Dagegen empfiehlt Evangelos Evangelou das Verfassen von Listen und Tagesplänen, um die zusätzliche freie Zeit zu organisieren und mit selbstgewählten, sinnvollen Aufgaben zu füllen.
Das können sportliche Unternehmungen, Fortbildungen, Gartenarbeit oder auch kreative Projekte sein – Dinge, für die man früher keine Zeit gehabt habe. John, VWL- und Informatik-Student und Mitbewohner von Kuo-Yi im John-Mott-Haus, hat sich in den letzten Wochen ein ganz besonderes Ziel gesetzt: die Erfindung einer neuen Sprache.
Links
Psychotherapeutische und Psychosoziale Beratungsstelle Studentenwerk München
Telefonische Beratung: +49 89 357135–40 (Mo-Fr 9:00 bis 12:00 Uhr)
Social Apps:
Gruppen-Kommunikation mit Discord: https://discordapp.com/
Online-Teamarbeit mit Slack: https://slack.com/intl/de-de/
Gruppen-Videochat mit Skype: https://www.skype.com/de/features/group-video-chat/