Brexit Kater am Tag danach
Es ist kein Wochenende wie jedes andere in Großbritannien: Die politischen und menschlichen Erschütterungen des gestrigen Erdbebens sind deutlich zu spüren – nicht nur in London, sondern auch in anderen Teilen des Landes. Ein Stimmungsbericht.

Lautstarke Proteste am Abend in London, einige der Demonstranten hielten Schilder mit dem Slogan "No Border. No Boris" hoch: eine Anspielung auf Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister, konservativer Brexit-Vorkämpfer - und womöglich nächster Premierminister des Landes. Der 52-Jährige sieht auf Großbritannien wunderbare Zeiten zukommen:
Ein Riss geht durch Großbritannien
Das sehen gerade viele junge Briten, die überwiegend für den EU-Verbleib gestimmt haben, ganz anders: Auch in Glasgow und in Edinburgh gingen viele auf die Straße, um ihren Unmut über den Brexit kundzutun.
Die schottische Ministerpräsidentin, Nicola Sturgeon, berief für den Vormittag eine Krisensitzung der Regionalregierung ein; sie meint, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum sei nun "sehr wahrscheinlich", um Schottland in der EU zu halten:
Die Chefin der Schottischen Nationalpartei SNP, die für die Unabhängigkeit kämpft, will aber nichts überstürzen. 62 Prozent der Schotten hatten gegen, nur 38 Prozent für den Brexit gestimmt.
Wer folgt auf David Cameron?
In London lecken derweil die großen Parteien ihre Wunden: In der Labour-Partei gerät ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn unter Druck, weil er – wie manche ihm vorwerfen - nicht engagiert genug für die EU gekämpft habe. Und die Konservativen müssen sich – nach dem angekündigten Abgang von David Cameron – einen neuen Partei- und damit den neuen Regierungschef des Landes suchen. Als Favorit gilt bei vielen Johnson. Nicht so bei Tory Kenneth Clarke, einem überzeugten Europäer:
"Wir haben jetzt eine Übergangsregierung. Wir wissen nicht, wie unsere Beziehung zu Europa künftig aussieht. Wir wissen nicht, wie wir künftig mit der Zuwanderung umgehen. Ich muss wirklich ruhig bis zehn zählen – und frage mich: Was zum Teufel machen wir jetzt nur?"
Kenneth Clarke
Britisches Kabinett berät am Montag
Am Montagmorgen berät Cameron mit seinem Kabinett, wie es weitergeht; am Nachmittag dann debattiert das Parlament den Ausgang des Referendums. Der scheidende Premier will nicht mehr selbst den Austritt aus der EU formal einleiten; wann das Kündigungsschreiben in Brüssel eingeht, ist damit weiter offen.
Derweil scheinen die Brexit-Befürworter bereits ihre ersten Wahlkampf-Versprechen zu kassieren, etwa beim heißen Thema Zuwanderung; der konservative Europa-Abgeordnete Daniel Hannan sagte dazu:
"Die Idee ist, im Binnenmarkt zu bleiben, aber ohne den politischen Überbau. Ja, das heißt weiter Arbeitnehmerfreizügigkeit – aber eben nur für die, die arbeiten."
Daniel Hannan
Auch durch die Medien geht ein Riss
Triumphierend im Ton sind heute die Titelseiten der pro-Brexit-Blätter: Die "Sun" sagt "So long, farewell, auf wiedersehen, ADIEU", der "Daily Telegraph" sieht die "Geburt eines neuen Britannien", und die "Daily Mail" "verneigt" sich vor den Briten.
Die pro-europäischen Zeitungen dagegen zeigen sich geradezu erschüttert: "Over. And Out" titelt der "Guardian", ein "Brexit-Erdbeben" erkennt die "Times", "Britannien bricht mit Europa" lautet die Schlagzeile der "Financial Times", während der "Daily Mirror" fragt "Was zur Hölle passiert jetzt?". Wirtschaftlich nichts Gutes, mutmaßt die Rating-Agentur Moody’s: Sie hat die Aussichten für die Kreditwürdigkeit Großbritanniens bereits herabgestuft.
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Stan, Samstag, 25.Juni 2016, 13:22 Uhr
1. Das Volk triumphiert über die Medien
Das Fingerhakeln zwischen Volk und Medien ist entschieden. Allen Beeinflussungsversuchen zum Trotz
haben die Briten ein Zeichen gesetzt. Die öffentliche Meinung ist nicht die veröffentlichte Meinung.