Olympia-Attentat 1972 "Ich wache nicht mehr jeden Morgen mit München auf"
Die Sonne sticht am 5. September 1972 auf München herab. Es ist der Tag, an dem Ankie Spitzer alles verliert und zu kämpfen beginnt. Beim Attentat wird ihr Mann André von palästinensischen Terroristen ermordet. Wie fand die Hinterbliebenen-Sprecherin zurück ins Leben?
BR.de: Frau Spitzer, wenn wir von München sprechen, was löst das bei Ihnen aus?
Ankie Spitzer: Ich erinnere mich an den Sommer 1972, als ich mit meinem Mann André die Zeit von 21. August bis 2. September in München verbrachte, es war wunderschön. In der Gemeinschaft mit anderen Sportlern und deren Familie haben wir Bier getrunken und hatten das wunderbarste Leben - bis aus dem gemeinsamen Traum ein Albtraum wurde. Der Ort München ist für mich seitdem belastet. Wenn es in Paris passiert wäre, hätte ich ein Problem mit diesem Namen und dieser Stadt.
Zur Person
Ankie Spitzer (66) ist die Witwe des israelischen Fechttrainers André Spitzer, der bei den Olympischen Spielen in München von palästinensischen Terroristen ermordet wurde. Gemeinsam haben sie eine Tochter. Ankie Spitzer hat später wieder geheiratet und ist Israel-Korrespondentin für das Niederländische Fernsehen.
BR.de: Wie haben Sie von der missglückten Rettungsaktion erfahren?
Ankie Spitzer: Ich bekam die Nachricht in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1972 gegen 3.10 Uhr. Am Morgen des 6. September bin ich nach München geflogen. Dort fand eine Zeremonie im Olympiastadion statt, an der ich teilnahm. Am Nachmittag fuhr ich in die Connollystraße, um Andrés Sachen zu holen.
BR.de: Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Ankie Spitzer: Es war ein unendlich schwerer Gang für mich zur Hausnummer 31. Aber ich musste dorthin, wo André und seinen Freunde die letzten Stunden ihres Lebens verbracht hatten. Ich erinnere mich an das Öffnen der Haustür, den Blick ins Treppenhaus. Im Zimmer, in dem alle Geiseln gefangen gehalten wurden, waren noch Reste vom Essen, das die Geiselnehmer hatten liefern lassen. Ich stand da, wo Mosche Weinberg erschossen wurde. Es war grausam zu sehen, dass man die Geiseln nicht einmal ins Bad gelassen hatte.
"Im Zimmer, in dem die Geiseln festgehalten wurden, habe ich mir geschworen, dass ich nie wieder aufhören werde, über diese schrecklichen Taten zu reden."
Ankie Spitzer
BR.de: Manche Politiker in Deutschland und Bayern hätten sich Ihr Schweigen gewünscht. Hatten Sie Kontakt zu den Verantwortlichen, die die Befreiungsaktion geleitet haben?
Ankie Spitzer: Ich habe mit Polizeipräsident Manfred Schreiber gesprochen, der meiner Meinung nach schreckliche Fehler gemacht hat. Und ich hatte mit Innenminister Bruno Merk eine heftige Konfrontation in der Sendung nachtClub im Bayerischen Fernsehen. Schreiber kam damals nicht in die Sendung. Merk und er handelten arrogant und hatten keine Ahnung, was sie taten. Wenn sie einen Plan gehabt und ihre besten Leute geschickt hätten und dennoch nicht in der Lage gewesen wären, alle zu retten, Menschen im Feuergefecht gestorben wären, dann hätte ich das sogar verstanden. Aber dass kein Einziger gerettet werden konnte?
BR.de: Wie hätte es besser laufen können?
Ankie Spitzer: Tzwi Zamir, der damalige Chef des Mossads, war in München - genauso Viktor Cohen, Chef einer Spezialeinheit des Geheimdienstes. Sie wollten an der Befreiungsaktion mitmachen, aber wurden nicht informiert und mitgenommen.
BR.de: Was hätten Sie von Merk und Schreiber erwartet? Einen Rücktritt?
Ankie Spitzer: Natürlich.
BR.de: Hat sich je ein deutscher Politiker bei Ihnen entschuldigt?
Ankie Spitzer: Klaus Kinkel, den ich im November 1992 in Jerusalem traf, sagte mir, dass er persönlich beschämt davon sei, was in München passiert sei. Einige Jahre später, im Februar 2000, traf ich Bundespräsident Johannes Rau. Bei dem Treffen waren auch der israelische Präsident Ezer Weizmann und Yossef Romanos Frau Ilana dabei.
BR.de: Später bekamen Sie und andere Hinterbliebene eine Entschädigung.
Ankie Spitzer: Wir bekamen 30 Jahre nach dem Massaker eine Entschädigung in Höhe von drei Millionen Euro. Eine Million zahlte Bayern, eine Million die Stadt München und eine Million die Bundesrepublik Deutschland. Wir mussten von dem Geld Gerichtskosten zahlen. Das Geld wurde unter 25 Personen, die beim Attentat ein Familienmitglied verloren hatten, aufgeteilt. Die Zahlung war für uns vor allem ein Schuldeingeständnis der Deutschen.
Arbeit als Hinterbliebenen-Sprecherin
Witwe Ankie Spitzer engagiert sich gegen Hass und Vergessen und für die Rechte der Hinterbliebenen. Sie leitete als Hinterbliebenen-Sprecherin den juristischen Kampf gegen die deutsche Regierung, um diese zu einem Schuldgeständnis für die misslungene Befreiung der elf Geiseln zu bewegen - nicht ohne Erfolg.
BR.de: Auch mit dem palästinensischen Freiheitskämpfer Jassir Arafat haben Sie mehrfach über das Attentat gesprochen.
Ankie Spitzer: Beruflich, ja. Beim ersten Treffen hat mein Mikro gezittert, doch Arafat und weitere palästinensische Führer hatten keine Ahnung, wer ich bin. Ich arbeite unter einem anderen Namen und war in Israel auch nie im TV zu sehen - auch Palästinenser schauen fern. Angst hatte ich keine. Es ist mir nur sehr wichtig, dass ich die Trauer und Wut über das Attentat von meinem Job als Journalistin trenne und professionell von einer politischen Lage berichte. Ich habe vier Kinder, da sind meine Arbeit und die Gegenwart wichtiger.
BR.de: Sie haben nicht versucht, mehr herauszufinden über das, was ihr Leben verändert hat?
Ankie Spitzer: Ich muss zugeben, dass ich Fragen an Mahmud Abbas, den Politiker der palästinensischen Fatah-Bewegung, gestellt habe. Ich wollte mehr über die Geldgeber und Hintermänner wissen.
BR.de: Alle vier Jahre, immer zu Olympia, kommt München 1972 wie ein Bumerang zurück, wie Sie selbst sagen. Verhindert dies das Verarbeiten, das Abschließen?
Ankie Spitzer: Es ist Teil meines Lebens. Die Fragen, die ich mir stelle und die mir gestellt werden, bleiben. Aber natürlich geht das Leben weiter. Ich wache nicht mehr mit dem Gedanken an München auf. Aber ich schulde es meinem Mann und seinen Freunden, darüber zu reden.
BR.de: Geht ihr Kampf in London weiter?
Ankie Spitzer: Ja, ich habe doch nichts zu verlieren. Sebastian Coe, der Chef des Londoner Organisationskomitees, hat uns geantwortet, dass eine Schweigeminute nicht im Protokoll der Spiele vorgesehen sei. Ich habe ihm geantwortet, dass die Tatsache, dass mein Mann von München in einem Sarg zurückkehrte, auch nicht im Protokoll stand. Bei den Sommerspielen 1976 in Montreal wurde uns von offizieller Seite gesagt, es wäre unmöglich, eine Schweigeminute einzulegen, weil die 21 arabischen Delegationen protestieren würden. Sie verstanden nicht, dass wir die Schweigeminute nicht aus Hass und Rache fordern. Das IOC dachte danach, dass wir sie in Ruhe lassen - aber wir sind immer zu Olympia wiedergekommen.
BR.de: Was hat sich seither verändert?
Ankie Spitzer: Leider nur die Ausrede. In Barcelona 1992 wurde die Ablehnung so begründet, dass wir Politik mit der Olympischen Idee vermischen würden. Vor Athen 2004 appellierte ich an IOC-Präsident Jacques Rogge, dass er selbst als Sportler in München dabei gewesen sei. Er sagte, er würde es tun, doch seine Hände seien gebunden, da 46 arabische Delegationen vor Ort sein würden.
BR.de: Was, glauben Sie, ist der wahre Grund für die Ablehnung?
Ankie Spitzer: Sie machen es nicht, weil die getöteten Sportler aus Israel stammten. München war das einzige Mal, dass Mitglieder der Olympischen Familie im Olympischen Dorf getötet wurden. Trotz allem: Ich glaube an die Olympische Idee, auch wenn London kaum noch etwas mit München gemein hat. Die Präsenz all dieser Sicherheitsleute - schrecklich.
BR.de: Was werden Sie am 5. September dieses Jahres tun?
Ankie Spitzer: Ich werde in München sein. Bei einer Gedenkfeier. Wie vor 40 Jahren.