Alt, aber sexy! Die Geschichte des Nachtstudios
Das Nachtstudio des Bayerischen Rundfunks feiert seinen 70. Geburtstag. 70 Jahre für Essays, Diskussionen, Standpunkte und Diskurse. Und das war erst der Anfang.
Auferstanden aus Ruinen
Eine Sendung für Anspruchsvolle, Nonkonformisten und Querdenker - das wollte das Nachtstudio sein. Als es am 10. Dezember 1948 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, hieß der Bayerische Rundfunk noch für einige Wochen Radio München, weite Teile der Stadt lagen in Trümmern und die Befehlsgewalt hatte noch die amerikanische Militärbehörde inne. Die lockerte zum Sendestart die strengen Zensurbestimmungen: Nur so, das war die Hoffnung, nur mit Spielstätten für freie Debatten könnte sich unter den Deutschen der neue demokratische Geist etablieren. Nation building nennen wir das heute, damals hieß es Reeducation. Und ja, bei dieser freundlichen Form der Umerziehung war eine gehörige Portion Idealismus mit im Spiel.
Alfred Andersch: Wir glaubten an die Literatur
Alfred Andersch, Schriftsteller und Gründer der Redaktion Radioessay im SDR, beschrieb die Begeisterung des Neuanfangs im Jahr 1973 folgendermaßen: "Wir saßen zwischen Stapeln von Büchern und Zeitschriften, die noch niemand in Deutschland kannte, und wir beeilten uns, dieses unerhörte Wissen anderen mitzuteilen, mit Hilfe interessanter und kompetenter Leute aus der ganzen Welt, die uns besuchten. Wenn ich heute die erste Hälfte der fünfziger Jahre charakterisieren soll, so kann ich dies nur, indem ich sage, daß wir auf eine ganz einfache und kaum reflektierte Art an die Literatur glaubten, und natürlich ganz besonders an die neue Literatur, an das neue Denken. Es schien uns selbstverständlich, daß die Bücher - die von Hitler unterdrückten Bücher, vor allem aber die nach dem Faschismus entstandenen und weiter entstehenden Bücher - eine ganz neue Welt entstehen lassen würden. Ganz unbewußt - wir kannten damals weder das Wort noch den Begriff - haben wir nach dem Prinzip Hoffnung gelebt. Was für Narren wir doch waren! Wir haben an die Literatur geglaubt! Nur deshalb haben wir, ohne uns einen Augenblick zu besinnen, und fast wahllos, Texte gesendet. Ein neuer Text - und das Leben würde sich ändern!"
Die Aufbruchsjahre
Gleichschaltung und Gehirnwäsche im Nationalsozialismus hatten ein kulturelles Trümmerfeld hinterlassen: So vieles kannte das Publikum in Deutschland nicht. Während die Verlage und Zeitschriften bis 1949 noch unter der Papierknappheit und -rationierung zu leiden hatten, konnte der Rundfunk sofort die Menschen erreichen. Das Nachtstudio arbeitete intensiv daran, die Lücken in der Kultur wieder zu schließen, so belebte es die Erinnerung an Sigmund Freud und Franz Kafka, die als Juden im zum Glück kurzlebigen 1000-jährigen Reich nicht veröffentlicht werden durften.
Aber die Programmverantwortlichen schauten nicht nur zurück. Das Nachtstudio beobachtete genau, was gerade den kulturellen Zeitgeist bestimmte: Es stellte den französischen Existentialismus, die neue amerikanische Literatur oder die Klangexperimente des Pariser Club d’Essai vor. Mit Gottfried Benn und Martin Heidegger kamen zwei führende deutsche Intellektuelle der 50er Jahre zu Wort, allerdings wurde ihre Versuche, sich den Nationalsozialisten als Vordenker anzudienen, nicht thematisiert.
Gegen den Stumpfsinn
Damals gab es im Nachtstudio einmal wöchentlich Vorträge, Lesungen oder Gespräche, tatsächlich zu nachtschlafender Zeit um 23 Uhr. Als erster Leiter wurde Gerhard Szczesny berufen, der Philosophie, Literaturgeschichte und Publizistik studierte hatte. Eine überraschende Wahl, denn Szczesny verhehlte nicht seine Distanz zum Christentum. Nicht nur mit dieser Berufung sorgte die US-Militärbehörde für ein offenes, diskussionsfreudiges Klima im Bayerischen Rundfunk. Allerdings veränderte sich das mit der Konsolidierung der Bundesrepublik und dem Beginn des Kalten Kriegs. In der von starken restaurativen Tendenzen geprägten Adenauer-Ära stieß Szczesny mit seinem kämpferischen, manchmal polemischen Humanismus auf wenig Gegenliebe: "Solange die öffentliche Meinung des Westens darauf besteht, daß nur das Fürwahrhalten der christlichen Glaubenspostulate die Welt retten kann, wird sie die glaubenslose Zeit gewaltsam verlängern und immer neue Generationen dem Zynismus, der Oberflächlichkeit und dem Stumpfsinn in die Arme treiben."
So pointiert schrieb Gerhard Szczesny 1958 in seinem Buch "Die Zukunft des Unglaubens. Zeitgemäße Betrachtungen eines Nichtchristen".
Forum der Querdenker
Das Nachtstudio schuf - zusammen mit anderen engagierten Kultur- und Essay-Redaktionen in der ARD - eine offene Gesprächskultur. Ausdruck dafür waren vor allem die Diskussionsrunden und Zweiergespräche: Elias Canetti, René König und Alexander Mitscherlich diskutierten im Nachtstudio über "Masse und Macht", Hannah Arendt und Carlo Schmid über das "Recht auf Revolution", die Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und Hans Egon Holthusen über "Glück und Elend der Literaturkritik". Daneben pflegte das Nachtstudio auch die kleine Form: Über Jahrzehnte hinweg entstanden unter dem Obertitel "Marginalien" Glossen, Feuilletons oder Kommentare, geschrieben von Meistern der Zuspitzung wie etwa Alfred Andersch, Wolfgang Hildesheimer oder Hans Magnus Enzensberger. Im Jahr 1961 kam es zum offenen Streit zwischen Gerhard Szczesny und seinen Vorgesetzten im Bayerischen Rundfunk. Szczesny hatte einen Radioessay des bekennenden Kommunisten Leszek Kolakowski ins Programm genommen. Der polnische Philosoph wurde später mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und lehrte Jahrzehnte lang in Oxford. Den Beitrag des ausgewiesenen Marxismus-Kenners Kolakowski wurde auf Anweisung des damaligen Intendanten Christian Wallenreiter aus dem Programm genommen, die Gründe lassen sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Gerhard Szczesny verließ daraufhin unter Protest den Sender.
Massenmedium oder Spezialistenprogramm?
Früh hatte im Radio die Trennung in Zielgruppen begonnen. Schon das 1950 gestartete zweite Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks stand für Wort, Information und Bildung. Das Nachtstudio blieb auf dem neuen Sendeplatz seinem hohen Anspruch treu. Und es bot Unterschlupf: Hörspiele z.B., die die Verantwortlichen einem breiten Publikum nicht zumuten wollten, wie etwa Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan", wurden hier urgesendet.
Die Frage, für welches Publikum die Radiomacher die Programme eigentlich senden, wurde noch dringlicher mit dem Verbreitung des Fernsehens. Innerhalb weniger Jahre veränderte sich die Mediennutzung fundamental. Der Abend gehörte bald dem Fernseher. Schon 1957 hatten die Sendeverantwortlichen dem Nachtstudio – unter dem zähen Titel "Sonderprogramm" - zwei weitere Sendeplätze eingeräumt. Jetzt fanden auch medizinische, geologische, astronomische oder wirtschaftspolitische Themen in größerem Maße Eingang ins Nachtstudio. Die thematische Ausweitung sprach neue Hörergruppen an, Szczesny sprach stolz von 600.000 Hörern bei einzelnen Sendungen.
Literatur und Diskussionen
Nach Szczesnys abruptem Weggang behielten die neuen Nachtstudioleiter Gustava Mösler, Kurt Hoffmann und später Leonhard Reinisch diese Programmausrichtung und -erweiterung bei, wobei kontroverse Themen ausgespart blieben.
1989 wurde Peter Laemmle als neuer Chef des Nachtstudios berufen. Laemmle war ein renommierter Literaturkritiker und hatte für Zeitungen, Radio und Fernsehen gearbeitet. Unter seiner Leitung wurde Literatur zum eindeutigen Schwerpunkt des Programms. Legendär war die Kritikerrunde mit Eva Demski, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser (quasi das literarische Trio vor dem Quartett), aber auch Diskussionen mit Hans Magnus Enzensberger und Johannes Groß, in denen sich keine Plattitüde erlaubt wurde.
"Peter Laemmle, der Essayist, der Film- und Radiomacher, der Leser, der Zuhörer, der Mitdenker. Sein Nachtstudio im Bayerischen Rundfunk war Legende. Hier diskutierten die Granden mit einer Flasche Rotwein vorm Mikrofon, hierher fanden die Neulinge [einen Platz], die er, wie einst Alfred Andersch, zu alimentieren wußte, und für die er in so vielen Jurys stritt", schrieb Wieland Freund in der "Welt" vom 16.1.2006 in seinem Nachruf auf Peter Laemmle.
Zeitgeist im Visier
Nach dem überraschenden Tod von Peter Laemmle 2006 trat Barbara Schäfer, die zuvor als Chefdramaturgin im Hörspiel gearbeitet hatte, seine Nachfolge an. Sie modernisierte das Programm, öffnete es früh für Themen wie Überwachung und digitale Medien. In ihrer Veranstaltungsreihe Forum Essay suchte sie Anknüpfungspunkte zum Dokumentarfilm, Theater und der bildenden Kunst. Außerdem gewann sie Literaten wie Kathrin Röggla oder Navid Kermani fürs Programm und schuf das Magazin „kleinformat“. Unter diesem Obertitel gab es jetzt innerhalb einer Stunde eine philosophische Zeitschriftenschau, einen Kurzessay und eine kritische Betrachtung alter Nachtstudiosendungen durch junge Autorinnen und Autoren. Ende 2013 wechselte Barbara Schäfer zum Deutschlandfunk.
Wer so eine Vergangenheit hat, muss die Zukunft nicht fürchten
Auch mit 70, auch nach vielen Veränderungen erweist sich das Nachtstudio als quicklebendig. Eine Beobachtung des Medientheoretikers Marshall McLuhan scheint sich auch hier zu bewahrheiten: Alte Medien sterben nicht, wenn neue auftreten, sie verwandeln sich. Mit den Podcasts erreichen anspruchsvolle Wortprogramme neue Zielgruppen – eine Entwicklung, von der auch das Nachtstudio profitiert. Das Interesse ist da: an kontroversen Diskussionen, aktuellen Debatten, polarisierenden Essays, also an Sendungen, die Fragen aufwerfen und sich die Antwort schwer machen. Das war eine Konstante in den letzten 70 Jahren – sie sollte auch eine sein in den kommenden.
Martin Zeyn
Leitung des Nachtstudios